Angst vor Wohlstandsverlust – Berechtigt oder unbegründet?
Die Angst vor Wohlstandsverlust und die Probleme der deutschen Wirtschaft prägen den Bundestagswahlkampf.
Die Zahl der Arbeitslosen ist so hoch wie seit zehn Jahren nicht, das Wirtschaftswachstum wurde nach unten korrigiert. Ist die Angst um den Wohlstandsverlust berechtigt? Und wie beeinflussen diese Sorgen das Wahlverhalten? Report Mainz liegt eine exklusive Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln vor, die zeigt, wer am meisten von der pessimistischen Stimmung profitiert.
Text des Beitrags:
Der Job hinter der Bar ist mittlerweile Frank Bokowits’ einziges Auskommen. Zweimal die Woche arbeitet der 56-jährige in einer Musikkneipe in der Nähe von Stuttgart. Seinen alten Vollzeit-Job bei einem Automobilzulieferer hat er im vergangenen Herbst verloren.
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Frank Bokowits:
„Einen Job werde ich nicht mehr finden. Du hast eigentlich keine Aufgabe mehr. Du hast keinen Druck mehr. Ich denke jeder Mensch brauch einen gewissen Druck, einen Antrieb und der ist halt jetzt weg.”
Als Betriebsrat war Frank Bokowits einmal für hunderte Mitarbeiter Ansprechpartner. Ein paar seiner alten Kollegen sind heute gekommen. Bokowits war immer für sie da - bis zum Ende.
Im Oktober vergangenen Jahres, nach Bekanntgabe der Insolvenz des Traditionsunternehmens Recaro, haben wir Frank Bokowits schon einmal getroffen. Die Stimmung, aufgewühlt.
Mitarbeiter, Recaro:
„Wo waren Sie letzte Woche? Um alles zu erklären?”
Damals im Herbst haben die meisten der rund 200 Mitarbeiter erfahren, dass sie ihren Job verlieren werden.
Mitarbeiter, Recaro:
„Das bedrückt einen natürlich aufs Tiefste, wenn man Zukunftsängste hat, zumal der Arbeitsmarkt momentan nicht so rosig ist.“
Mitarbeiterin, Recaro:
„Ich war auch davor schon in einem Unternehmen, dass in die Insolvenz gegangen ist, das es mittlerweile nicht mehr gibt.“
Der Niedergang des einst so erfolgreichen Autositzherstellers habe schon vor über zehn Jahren begonnen, erzählt uns Frank Bokowits. Damals sei der einstige Weltmarktführer an eine amerikanische Holding verkauft worden. Seither sei es mit dem Unternehmen bergab gegangen. Auf Anfrage äußert sich die Holding dazu nicht.
In den sozialen Netzwerken wurden nach der Pleite aber sofort die angeblichen Schuldigen identifiziert.
Facebook-Kommentar:
„Wie gewählt, so geliefert“
Facebook-Kommentar:
„Obacht geben, richtig wählen“
Facebook-Kommentar:
„Rot grün wirkt“
Frank Bokowits:
„Die Realität sah so aus, dass einfach dieses Unternehmen in Kirchheim vom Management kaputt gemacht worden ist. Über Jahre hinweg kaputt gemacht.”
Dennoch: mancher Influencer nutzt die Pleite um Stimmung zu machen. Dieser Youtuber arbeitet oft mit reißerischen Schlagzeilen: Blackout, Enteignung und Überwachungsstaat, für alles seien die Bundesregierung und die EU verantwortlich.
Auch für die Insolvenz von Recaro findet er dramatische Worte.
Oliver, Youtuber (5.10.2024):
„Insolvenzverfahren betrifft nur den Standort Deutschland. Ja, da würde ich gerne unseren geschätzten Wirtschaftsminister an dieser Stelle hier die Frage stellen, woran kann das jetzt denn liegen? Der Industriestandort Deutschland ist vollständig am Ende und komplett abgeschrieben. Alle Mitarbeiter werden nach den Worten des Sprechers der Insolvenzverwaltung ihren Arbeitsplatz verlieren. Mein herzliches Beileid an diese Mitarbeiter. Und ich hoffe, ihr werdet euch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr für die für euch richtige Partei entscheiden.”
Lässt sich mit Untergangsstimmung gut Reichweite generieren? Auf unsere Fragen antwortet der Influencer nicht.
Auch im aktuellen Wahlkampf spielen die Themen Wirtschaft und Wohlstand eine zentrale Rolle.
Robert Habeck, Bündnis 90/Die Grünen, Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz:
„Die Wirtschaft, die Wettbewerbsfähigkeit, der deutsche Wirtschaft”
Olaf Scholz, SPD, Bundeskanzler:
„Das wir die Herausforderungen für unsere Wirtschaft in der Zukunft bewältigen.”
Christian Lindner, FDP Parteivorsitzender:
„Wir wollen eine andere Richtung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.”
Markus Söder, CSU, Parteivorsitzender:
„Rezession, Depression, Inflation.”
Friedrich Merz, CDU, Parteivorsitzender:
„Wir erleben eine Deindustrialisierung unseres Landes.”
Alice Weidel, AfD, Parteivorsitzende:
„Die Automobilindustrie dank gigantischer Fehlinvestitionen im freien Fall, der Maschinenbau im Niedergang, chemische Industrie auf der Flucht.”
Die Nachrichten in den vergangenen Tagen drücken ebenfalls die Stimmung: Eine Arbeitslosenquote, so hoch wie seit zehn Jahren nicht, das Wirtschaftswachstum, nach unten korrigiert.
Dennoch: Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher sieht nicht ganz so schwarz. Er analysiert die Wirtschaftslage seit Jahrzehnten.
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Prof. Marcel Fratzscher, Ökonom, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung:
„Die wirtschaftliche Situation in Deutschland heute ist schwierig, gar keine Frage. Aber die Stimmung ist deutlich schlechter als die Realität. Und man hat das Gefühl, in Deutschland haben wir Massenarbeitslosigkeit, ein riesiges Chaos. Die Zukunft ist extrem negativ. Dem ist aber nicht so! Wir haben Rekordbeschäftigung in Deutschland, wir haben erfolgreiche Unternehmen. Wenn wir in diesem Pessimismus verbleiben, dann schaden wir uns selbst. Und dann wird sich die Wirtschaft auch nicht wirklich nachhaltig erholen.”
Den Pessimismus und die Sorgen untersucht das Marktforschungsunternehmen Ipsos seit Jahren im internationalen Vergleich - die Studie „What worries the world?”, also: “Was die Welt besorgt”, zeigt: die Gefühlslage in Deutschland sieht düster aus: Waren vor gut 10 Jahren noch über 70 Prozent der Deutschen mit der aktuellen wirtschaftlichen Lage zufrieden, waren es im vergangenen Dezember nur noch 27 Prozent. Ein neuer Negativ-Rekord.
Prof. Marcel Fratzscher, Ökonom, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung:
„Man könnte von einer mentalen Depression sprechen. Und dieser Pessimismus, dieser übertriebene Pessimismus führt genau in die Krise, die wir eigentlich vermeiden wollen. Denn wenn Unternehmen nicht investieren, Menschen nicht konsumieren, dann schwächt sich die Nachfrage ab. Da liegt die Verantwortung zum Teil bei der Politik klare Angebote zu unterbreiten, die wirklich konstruktiv sind, aber eben auch bei der Gesellschaft und bei den Unternehmen selbst.”
Ein Unternehmer, der sich dieser Verantwortung stellt, ist Clemens Küpper. Er hat hier in dieser Gießerei vor gut 40 Jahren als Auszubildender angefangen und sich bis zum Geschäftsführer hochgearbeitet.
Die Bielefelder Gießerei mit 300 Angestellten kämpft in den vergangenen Jahren mit vielen Herausforderungen - Aufgrund der hohen Energiekosten musste Küpper sein Unternehmen neu denken: von der großen, lukrativen Serienproduktion hin zu hochspezialisierten Sonderanfertigungen.
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Clemens Küpper, Geschäftsführer, Eisengießerei Baumgarte:
„Wir sind ein Unternehmen, also unternehmen wir was. Also es bringt nichts, wenn man den ganzen Tag mit gesenktem Kopf durch das Unternehmen läuft. Wir hatten keine besonders erfolgreichen Jahre in den letzten zwei Jahren, aber wir haben uns hier heute mit der Belegschaft auch vorgenommen, wir tun jetzt was dagegen. Das heißt, wir reduzieren die Kapazitäten.”
Das mache seinen Mitarbeitern Sorgen. Doch die einfachen Antworten auf diese komplexen Herausforderungen, wie sie die Populisten versprechen, sollen bei seinen Mitarbeiten nicht verfangen.
Jeden Tag hängt Clemens Küpper deshalb den Wirtschafts-Teil der Tageszeitung in seiner Firma aus.
Clemens Küpper, Geschäftsführer, Eisengießerei Baumgarte:
„Also aus meiner Sicht haben wir drei wichtige Werte: Wir haben Wohlstand, wir haben eine sichere Bildung und wir haben Sicherheit. Und alle diese drei Dinge werden im Moment gefühlt angegriffen, diskutiert und immer wieder in Frage gestellt. Und wir merken es hier in Betrieb auch, dass sich die Leute Sorgen machen, und das merkt man schon, dass die Unsicherheit steigt.”
Wie wählen die Deutschen, wenn sie unsicher sind und Angst haben? Der Politikwissenschaftler Matthias Diermeier vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat das erforscht.
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Matthias Diermeier, Politikwissenschaftler, Institut der Deutschen Wirtschaft:
„Wir haben Wählerschaften, beispielsweise von der Grünen Partei. Die machen sich relativ geringe Sorgen um ganz viele Fragen. Wir haben Wählerschaften am anderen Rand, beispielsweise bei der AfD. Da werden sich sehr, sehr viele Sorgen gemacht.9 von 10 AfD-Anhängern machen sich große Sorgen um die Migration. Im gesamtdeutschen Durchschnitt ist es gerade mal jeder zweite. Große Sorgen machen sich AfD Anhänger aber auch um die allgemeine wirtschaftliche Lage, also das, was mit der Wirtschaft im Land passiert. Zwei Drittel geben hier an, dass sie sich große Sorgen machen. Das sind 20 Prozentpunkte mehr als im Rest der Bevölkerung.”
Knapp 66 Prozent aller AfD-Anhänger beschäftige also die Angst vor dem wirtschaftlichen Untergang Deutschlands.
Matthias Diermeier, Politikwissenschaftler, Institut der Deutschen Wirtschaft:
„Die politischen Ränder leben gewissermaßen vom politischen Angebot, das katastrophale Szenarien an die Wand malt, das Untergangsszenarien beschreibt. Und das geht über ganz viele Themen. Wir werden überrannt von der Migration. Die deutsche Wirtschaft ist am Ende. Und das erlaubt mir als Individuum natürlich, mir ganz, ganz viele Sorgen zu machen.”
Deutschland steht auch im Wahl-Jahr 2025 vor großen, wirtschaftlichen Herausforderungen. Der Umgang damit wird entscheidend sein für den Wahlausgang und damit für die Zukunft des Landes.
Bleiben Unsicherheit und Angst das beherrschende Gefühl, werden diese politisch weiter instrumentalisiert.
Prof. Marcel Fratzscher, Ökonom, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung:
„Wir sehen im Bundestagswahlkampf, dass die Parteien diese wirtschaftlichen Sorgen der Menschen aufgreifen und leider instrumentalisieren. Es wird ein Wahlkampf mit der Angst geführt, Ihr Arbeitsplatz ist gefährdet, Sie werden noch weniger Kaufkraft haben, die Wohnung wird verschwinden, die Inflation wird hoch bleiben. Und das versuchen viele Parteien, diese Ängste zu schüren, um dann letztlich die Wähler für sich zu gewinnen. In der Realität haben wir in der Vergangenheit gesehen, die Hauptgewinner eines solchen Wahlkampfs, der von Populismus und Angst geprägt ist, ist die AfD.“
Stand: 13.02.2025 12:40 Uhr