Skepsis seit Gründung: Die EU und ihre Kritiker

Die Geschichte Europas ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Kritik gab es schon seit Anfang an, gegen Parlamentarier und Beamte in Brüssel. Dabei waren es häufig andere, die in Europa die Fäden zogen: die Nationalstaaten.

Historiker können die Europa-Skepsis bis in die 50er-Jahre zurückverfolgen. Da war die EU noch gar nicht gegründet, sondern es hatten sich mehrere Nationalstaaten Europas gerade zu einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zusammengeschlossen. Auch 1979 beim ersten direkt gewählten Europaparlament waren Worte wie “Quassel-” oder “Schwatzbude” in aller Munde. Woher kommt die Skepsis in den ersten Jahren der europäischen Integration und was hat das mit heute zu tun?

Text des Beitrags:

Ein Blick zurück. 
Stimmen über Europa.  

Sprechertext:  
„Brüssel, die Kommission, ist zum Symbol für Misswirtschaft geworden.“  

Journalist:   
„… wie seine Gegner behaupten ein ziemlich lächerliches Parlament. Eine europäische Quasselbude, eine Eitelkeitsarena.“  

Passant:  
„Die Abgeordneten bekommen 12.000 Mark im Monat“

Bauer:  
„Also die Bürokraten in Brüssel müssten entlassen werden – ja, da hätte ich nichts dagegen.“   

Klingt fast so wie heute:  
Stimmen über Europa. Von vergangener Woche in Mainz.  

Passantin:  
„Also die ganzen Korruptionsvorfälle und alles, was sich im Moment so da abspielt. Ich finde, das ist einfach nicht so angemessen.“ 

Passant: 
„Zu viel Bürokratie. Da könnte man einiges einsparen.“ 

Passant: 
„Manches kann man nicht verstehen, was passiert.“ 

Ein Film über alltägliche Europa-Skepsis. Woher kommt sie eigentlich? Und was hat das früher mit heute zu tun?

Mir ihr reisen wir zurück: Beate Weber-Schuerholz. Heute ist sie 80 Jahre alt.  

Als sie 1979 für die SPD für das erste direkt gewählte europäische Parlament kandidiert, ist die Lehrerin eine junge Frau.  Sie hat Hoffnung. Glaubt an die europäische Idee. Macht kräftig Werbung im Wahlkampf .

Beate Weber-Schuerholz, SPD, ehemalige Europaabgeordnete: 
„Denken Sie daran, Europa ist auch ihre Chance.“ 

Die Chance für Frieden. Wohlstand. Doch bei vielen Wählern kommt das alles nicht wirklich an. Es geht ums Geld. 

Skepsis von Anfang an 

Passant: 
„Aber wer zahlt das? Müssen wir genauso bezahlen wie die EWG bezahlen mit 50 Prozent gegenüber den anderen. Das passiert beim vereinigten Europa. 50 Prozent bezahlen wir.“ 

Frage: 
„Vielleicht erinnern Sie sich daran, wann Sie das erste Mal so etwas gespürt haben, eine Skepsis gegenüber Europa?“ 

Beate Weber-Schuerholz
Beate Weber-Schuerholz | Bild: SWR

Beate Weber-Schuerholz, SPD, ehemalige Europaabgeordnete:  
„Beim ersten Wahlauftritt 1979. Ganz grundsätzlich, dass Europa nix taugt, dass Europa keine Probleme lösen wird. Wir haben unglaublich wichtige Gesetze verabschiedet, zum Schutz von Arbeitnehmern vor gefährlichen Arbeitsstoffen, zum Beispiel.“ 

Aber angekommen sei das meist nicht. 

Der Historiker Kiran Patel forscht seit Jahren zur Europa-Skepsis, hat Archive, Umfragen ausgewertet. Seine Erkenntnis: Die Skepsis gab es von Anfang an, bis in die 50er Jahre lasse sich das nachweisen. 

Prof. Kiran Patel, Ludwig-Maximilians-Universität München:  
„Weil es eben auch schwierig zu verstehen ist. Dass eben dieses Europa auch so indirekt wirkt, auf das man eigentlich keine Ahnung hat wie das funktioniert. Und da haben die nationalen politischen Eliten oft auch gar kein großes Interesse daran gehabt, die quasi systemischen Herausforderungen zu erklären.“  

Europa scheint weit weg. Die Entscheidungen aber betreffen damals schon das ganz konkrete Leben. Das zeigt auch unser Blick ins Archiv. Voll von Beispielen eines missverstandenen Europas.  

Entscheidungen sorgen für Unverständnis 

Die gute deutschen Markenbutter. 1964 verursacht sie einen kleinen europäischen Skandal. Damals heißt die EU  EWG. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Und die will die Butter verändern. Ihr Mindest-Fettanteil soll steigen.  

Sprechertext:  
„Damit will man unsere Butter auf Europanorm bringen.“  

Die Idee: Die Butter soll überall gleich sein. Um den Handel zu erleichtern. Doch durch das zusätzliche Fett steigt auch der Preis.  

Im gleichen Jahr gibt es ein Treffen, zwischen Vertretern der Milchwirtschaft und mehreren Hausfrauen. Und die lassen ihrem Ärger freien Lauf.  

Hausfrau:  
„Und dann möchte ich wissen: Die Sachen, die aus der Landwirtschaft kommen, dass die immer teurer werden.“ 

Hausfrau:  
„Können wir nicht irgendwie zu einem Boykott aufrufen. Dass man die Butter nicht kauft, wenn sie teuer wird. Sicher, das werde zu überlegen.“ 

Auch die Journalisten der Zeit positionieren sich klar:

Journalist:  
„War die ganze Aufregung eigentlich nötig und musste man die Hausfrauen wieder in Unruhe versetzen?“ 

Journalist:
„Wieder ein Opfer, das der Verbraucher auf dem EWG-Ladentisch bringen soll.“ 

Die EWG, Europa als vermeintlicher Verbraucherschreck. Doch wer hat den Ärger um die Butter eigentlich zu verantworten? Wirklich Europa?  

Brüssel als Sündenbock

Nicht ganz. Es sind die Nationalstaaten und ihre Vertreter. Die über Jahrzehnte hinter verschlossen Türen die Geschichte Europas bestimmen. Über den sogenannten Ministerrat, der bis in die 90er Jahre bei fast allen Entscheidungen das letzte Wort hat.  

Prof. Kiran Patel
Prof. Kiran Patel | Bild: SWR

Prof. Kiran Patel, Ludwig-Maximilians-Universität München:  
„Und die waren oft sehr problematisch und bei den Bürgerinnen und Bürgern unbeliebt. Aber das hat man natürlich nicht so nach außen wiederum weitergegeben, sondern häufig auch darauf verwiesen: Das war Brüssel.“  

Auch das ziehe sich durch die Geschichte: Brüssel, das Parlament als Sündenbock. Obwohl es jahrelang im Prinzip kaum mitentscheiden durfte. Und trotzdem immer wieder im Fokus steht.

1984. Beate Weber-Schuerholzs zweiter Wahlkampf. Mit vielen Diskussionen. 

Passant: 
„Was essen Sie denn? Was essen Sie denn?“ 

Es geht wieder um die Butter. Die sogenannten Butterberge. Hunderttausende Tonnen liegen damals in Lagerhallen. Überproduktion. Eine Folge der Politik der Nationalstaaten, die mit hohen Garantiepreisen  die Bauern animieren, immer mehr zu produzieren. Ein Riesenthema damals.

Beate Weber-Schuerholz versucht das alles zu erklären. Und dringt doch nicht durch - die 80-jährige erinnert sich noch gut. Kein Tag, an dem sie sich keine Vorwürfe habe anhören müssen. Obwohl sie eigentlich gar nicht Schuld war.  

Beate Weber-Schuerholz, SPD, ehemalige Europaabgeordnete:  
„Man hat alles in einen großen Pott geworfen. Also Europa war Europa, und die Abgeordneten waren die einzigen, die man am Wickel packen konnte.“  

Zu Besuch bei Elmar Brok. 40 Jahre saß er im Europäischen Parlament. War auch beim ersten direkt gewählten mit dabei. Und kann ebenfalls ein Lied singen von den Abläufen in Brüssel und in der Heimat.  

Elmar Brok
Elmar Brok | Bild: SWR

Elmar Brok, CDU, ehemaliger Europaabgeordneter 
„Wenn die Sonne scheint, waren es Rom, Paris und Berlin. Wenn es regnet, ist es immer Brüssel.“ 

Kritik am heutigen Ministerrat 

Immerhin: Mittlerweile habe das Parlament mehr Einfluss - entscheide bei fast allen Politikbereichen in Europa mit. Nach Jahren des Reformprozesses.  

Fassen wir zusammen. Ärger gegenüber Europa, feststellbar durch alle Jahrzehnte. Laut Experten und unseren Zeitzeugen auch wegen der Intransparenz des Ministerrats. Der über Jahre hinter verschlossenen Türen tagte.

Ist das heute anders? Tatsächlich. Eine Live-Übertragung des Ministerrats:

Video:  
„Und damit wollen wir die Kameras anschalten lassen.“ 

… Der immer dann öffentlich tagt, wenn über Gesetze abgestimmt, beraten wird. Transparenz - meist allerdings nur für wenige Minuten. Dann gehen die Kameras wieder aus.

So kurz, dass auch das Europaparlament im Herbst den Rat aufforderte, mehr öffentlich zu diskutieren. Damit Entscheidungen besser nachvollziehbar seien. Das alte Problem. 

Das vielen bei unserer Umfrage in Mainz am wichtigsten scheint. Gerade auch wegen der vielen Dinge, die trotz aller Kritik an Europa gut seien.  

Passant:  
„Europa steht für mich für Meinungsfreiheit, für Reisefreiheit, für freie Grenzen“ 

Passant: 
„hilfreich könnte sein, das auch einfach ein bisschen direkter zu kommunizieren auch.“  

Passant: 
„um dann mehr als Bürger auch mitgenommen zu werden. Und dann kann man die Entscheidung auch besser mittragen.“ 

Stand: 06.06.2024 00:37 Uhr