Mobbing? Schwere Vorwürfe im Klinikum Friedrichshafen

Für Ärztin Elke Küßner soll das Wohl ihrer Patienten das Wichtigste gewesen sein. Deshalb prangerte sie scheinbare Missstände in ihrer Klinik in Friedrichshafen an, sprach von vermeidbaren Todesfällen. Dadurch geriet sie in den Konflikt mit der Klinik und die Lage spitzte sich zu. Was kann mit Menschen geschehen, die sich ausgegrenzt oder gemobbt fühlen?

Text des Beitrags:

Wir sind in Friedrichshafen am Bodensee - ein sonniger Pfingstmontag vor zwei Wochen. Doch die Idylle trügt - auf dem Wasser suchen Rettungskräfte nach einem Vermissten. Es geht um Leben und Tod. Auch ein Helikopter eilt zur Hilfe.  

Bis vor einem halben Jahr flog auch sie noch solche Einsätze: die Intensivmedizinerin und Notärztin Elke Küßner. Ihr Selbstmord machte vor einem halben Jahr bundesweit Schlagzeilen.  

Elke Küßner war der Überzeugung, hier am Klinikum würden Patienten falsch behandelt. Junge, unerfahrene Assistenzärzte seien überfordert. Menschen seien deshalb gestorben. Doch was trieb die Oberärztin in den Suizid? Das wird bislang nicht untersucht.  

Wir sind verabredet mit Elke Küßners Zwillingsschwester. Sie empfängt uns in der Wohnung ihrer Schwester. Der Ort, an dem sie aus dem Leben gegangen ist. 

Reporterin:  
„Warum ist Ihnen das so wichtig, diesen Ort hier zu erhalten?“ 

Bettina Oertel, Zwillingsschwester:  
„Ich spüre Elke hier. Sie ist noch da. Und ich häng an der Wohnung. Es sind so viele Erinnerungen verbunden mit Elke.“  

Hier kann Bettina Oertel ihrer Zwillingsschwester noch immer nah sein.  

Sie erzählt uns von einem Gespräch, in dem die Schwester ihren Vorgesetzten zum ersten Mal auf einen ihrer Meinung nach vermeidbaren Todesfall im Klinikum aufmerksam gemacht habe: 

Bettina Oertel
Bettina Oertel | Bild: SWR

Bettina Oertel, Zwillingsschwester:  
„Sie hat dann mir aus diesem Gespräch berichtet: Sie war furchtbar erschüttert, weil die Reaktion ihres Vorgesetzten wohl war, sie solle dieses Thema nicht mehr problematisieren, sie solle es nicht mehr thematisieren. Wörtlich hat sie mir damals berichtet, er habe zu ihr gesagt, sie solle die Klappe halten. Sie war damals fassungslos. Ich habe sie vorher noch nie so erlebt. Und das ist für mich diese Zäsur, diese zeitliche Zäsur.“ 

Vermeidbare Todesfälle im Klinikum Friedrichshafen? 

Elke Küßner verfolgt den Fall nicht weiter. Aber ihr fallen weitere, ihrer Meinung nach vermeidbare Todesfälle auf ihrer Intensivstation auf - verursacht durch allein gelassene, junge Assistenzärztinnen und -ärzte. Sie beginnt, diese schriftlich festzuhalten. In sogenannten „Gefährdungsanzeigen“ die sie an den Geschäftsführer schickt.  

Was passierte danach in der Klinik? Wir recherchieren und treffen eine frühere Kollegin von Elke Küßner. Aus Sorge vor Repressalien will sie lieber unerkannt bleiben. 

Kollegin aus der Klinik: 
„Als Frau Küßner klar wurde, dass auch die Geschäftsführung nicht hinter ihr stand, da haben so ein bisschen zwei Herzen in ihrer Brust geschlagen. Zum einen noch immer das, dass sie zum Wohl der Patienten was verbessern muss. Und das andere war aber mittlerweile, dass sie Angst hatte. Angst, ihre Existenz zu verlieren. Angst auch teilweise, dass man versucht, sie zu verleumden.“ 

War diese Angst begründet? Wir erfahren, es kursierte ein Gerücht in der Klinik – Elke Küßner würde ihr Oberarztkollegen anschwärzen. Das Resultat, schwarz auf weiß, bekommen wir zugespielt.  

Eine schriftliche Distanzierung, unterschrieben von den engsten Kollegen und Kolleginnen. Sie sähen „keine Basis mehr für eine kollegiale und vertrauensvolle Zusammenarbeit“ mit Elke Küßner. 

Reporterin:  
„krass“ 

Kollegin aus der Klinik: 
„Das war der Moment, wo so ein bisschen die Welt für sie zusammengebrochen ist. Wenn man dann schwarz auf weiß sieht, okay, jetzt bin ich wirklich alleine.“ 

Warum handelten die Kollegen so? Am Klinikum Friedrichshafen treffen wir Reinhard Stadler. Er ist der Leiter des Ärztlichen Notdienstes und Anästhesist. Wir zeigen ihm die Liste: 

Reinhard Stadler, Oberarzt:  
„Ich sehe die jetzt zum ersten Mal, hab bisher nur davon gehört bisher.“ 

Reporterin: 
„Können Sie das nachempfinden, dass man als Kollege, als Arzt diese Liste unterschreibt?“ 

Rheinhard Stadler
Rheinhard Stadler | Bild: SWR

Reinhard Stadler, Oberarzt:  
„Es ist immer schwierig. Die Kollegen sind auch stark unter Druck, unter Druck eines Chefarztes. Und wenn der Chefarzt ihnen sagt, die Elke hat ein Schwarzbuch geführt, was wohl nicht wahr war, was sie auch immer praktisch bestritten hat, dann kann ich mir schon vorstellen, dass man in eine Situation kommt, wenn man so was unterschreibt.“ 

Hat der Chef das Gerücht von einem Schwarzbuch verbreitet? Auf Nachfrage lässt der Chefarzt über seinen Anwalt ausrichten, er habe die Liste „weder erstellt, noch initiiert oder zirkuliert“. 

„Ausgrenzung von Hinweisgebern psychische Gewalt” 

Prof. Katja Nebe lehrt Arbeitsrecht an der Universität Halle. Dass Personen, die Missstände melden, Opfer von Verleumdungen werden, ist ihr aus der Forschung bekannt.  

Prof. Katja Nebe, Rechtswissenschaftlerin, Universität Halle:  
„Das ist im Grunde genommen die perfideste Form von psychischer Gewalt, die man Menschen antun kann - sozusagen den auszugrenzen, der anfängt, die Anhaltspunkte zu dokumentieren. Das ist nicht nur persönlichkeitsrechtsverletzend - das halte ich fast für zu schwach formuliert - sondern das ist hochgradig perfide, weil es denjenigen auch in der beruflichen Community auf Jahre stigmatisiert. Der oder diejenige ist danach gefühlt in einer aussichtslosen Lage, ist ein verbranntes Kind.“ 

Interne Dokumente zeigen, dass man nun versucht, Elke Küßner zu versetzen.  Sie soll als Leitende Oberärztin in die Notaufnahme denn, sie sei „hervorragend qualifiziert für diese Stelle.“  

Eine Degradierung, getarnt als Beförderung? Das sieht nicht nur Elke Küßner so: 

Auch der Betriebsrat lehnt die Versetzung ab, weil er eine „diskriminierende und disziplinierende Maßnahme“ darin erkennt.  

Versetzung zur „Befriedung” angeboten 

Auf unsere Anfrage schreibt das Klinikum Friedrichshafen, diese Versetzung wäre zur „Befriedung der seinerzeitigen Situation“ angeboten worden. Elke Küßner habe diese zu deren „Bedauern abgelehnt“.   

Elke Küßner muss dennoch die Intensivstation verlassen. Die Belastung zehrt sichtlich an ihr. Bettina Oertel zeigt uns Fotos aus dieser Zeit.  

Bettina Oertel, Zwillingsschwester:  
„Die Bilder zeigen einfach den Kontrast, was aus der strahlenden glücklichen Elke, am Ende für ein trauriger Mensch geworden ist.“ 

Der Druck wird größer: die Geschäftsführung beauftragt einen Gutachter - weil das Klinikum „Elke Küßners Vorwürfe ernst genommen habe“, schreibt man uns auf Anfrage. 

Doch im Gutachten wird auch Elke Küßner selbst bewertet: Die 46jährige, die gerade noch „hervorragend qualifiziert war“, nennt der Gutachter „Jung-Oberärztin“, ihr werden „schwere Pflichtverletzungen“ und “Überforderung” vorgeworfen.  

„Elke Küßner war mit ihrer Meinung nicht allein” 

Wir fahren nach Chemnitz, denn wir erfahren: als offenbar letzten Ausweg vertraut sich Elke Küßner schließlich einem Journalisten des Südkuriers an. Benjamin Schmidt arbeitet jetzt hier, in der Heimatstadt von Elke Küßner.  Warum hat er ihr als einer der wenigen geglaubt? 

Benjamin Schmidt
Benjamin Schmidt | Bild: SWR

Benjamin Schmidt, Journalist:  
„Diese Frau war mit ihrer Meinung nicht allein, wie sich im Rahmen meiner Recherche sukzessive gezeigt hat, weil Leute sich sukzessive getraut haben, mit mir zu sprechen.“  

Er zeigt uns Sprachaufnahmen seines Interviews mit Elke Küßner: 

Elke Küßner: 
„Die glauben immer noch, dass man das, was gelaufen ist, dass man mich totkriegt. Ich habe manchmal das Gefühl, die warten nur darauf, dass ich umfall.“  

Reporterin: 
„Nun hat sich ja Frau Küßner tatsächlich das Leben genommen. Was denken Sie heute darüber?“ 

Benjamin Schmidt, Journalist:  
„Ich glaube, dass in diesem ganzen System, das die Kliniklandschaft ist, dass Leute einfach so krass abstumpfen, dass sie einfach merken, da ist jemand, der stört. Der muss weg.“  

In dieser Verfassung erfährt Elke Küßner schließlich, dass sie fristlos gekündigt werden soll.  

Noch am gleichen Abend will sie in ihrer Wohnung ihr Leben beenden. Freunde machen sich Sorgen, rufen den Notarzt, als sie nicht mehr ans Telefon geht. Schließlich stirbt Elke Küßner auf „Ihrer“ Intensivstation. 

Prof. Katja Nebe
Prof. Katja Nebe | Bild: SWR

Prof. Katja Nebe, Rechtswissenschaftlerin, Universität Halle:  
„Es ist erwiesen, dass schwere Mobbing-Fälle nicht nur mit psychischer Erkrankung, die sich in somatischer Form äußert, einhergehen, sondern dass es bis hin zum Suizidversuch und auch zum erfolgreichen Suizidversuch führt. Wenn ich den Fall so höre, und am Ende ein Suizid die Folge war, muss man hier tatsächlich über Straftatbestände nachdenken wie Körperverletzung mit Todesfolge.“ 

Schwester stellt Strafanzeige gegen ehemaligen Vorgesetzten 

Das Grab von Elke Küßner in ihrer Heimat Chemnitz. Gegen ihren früheren Vorgesetzten hat ihre Schwester jetzt Strafanzeige gestellt – wegen Körperverletzung, Nötigung, Verleumdung und übler Nachrede.  

 Denn der Selbstmord ihrer Schwester hatte ihrer Meinung nach nur diesen Grund: 

Bettina Oertel, Zwillingsschwester:  
„Ich glaube, dass Elke, mit ihrer Entscheidung zu gehen, ein Zeichen setzen wollte. Dass sie gesagt hat: Ihr habt mir zu Lebzeiten nicht zugehört. Jetzt müsst ihr mir zuhören.“ 

Stand: 06.06.2024 00:33 Uhr