Bindungsintoleranz und Sorgerecht: Umstrittenes Konzept

Müttern, die Opfer geworden sind von häuslicher Gewalt, wird vor Gericht immer wieder kein Glaube geschenkt. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten sich die Gewalt nur ausgedacht, um die Kinder zu manipulieren und vom Vater zu entfremden. Ihnen wird in einigen Fällen das Sorgerecht entzogen. Das Konzept der “Eltern-Kind-Entfremdung" ist Experten zufolge widerlegt und stellt keine Diagnose dar.

Text des Beitrags:

Sie wollte ihre Kinder schützen - vor häuslicher Gewalt - doch sie hat das Sorgerecht verloren. Tanja M., so nennt sie sich in diesem Film. Sie möchte unerkannt bleiben, erzählt uns von ihrer Ehe, die nach und nach zum Albtraum geworden sei. Ihr Exmann habe sie erniedrigt und vergewaltigt.  

Tanja M.: 
„Er war dann so dermaßen aggressiv, dass er einfach egal wie ich da lag, ob ich da geweint habe, ob ich krank war. Es war völlig egal. Selbst wenn die Kinder von nebenan was gerufen haben, weil sie was gehört haben, hat er weitergemacht.“   

Ihre Schreie und die Schläge bekommen die Kinder mit. Das belegen Gerichtsunterlagen, die uns vorliegen. 

Sie trennt sich. Doch dann beginnt er sie zu stalken, erzählt sie. Die Kinder hätten Angst vor ihm gehabt. 

Die Gewalt spielt vor Gericht keine Rolle 

Tanja M.: 
„Und ich habe immer mehr gemerkt, wie die Kinder verzweifelt sind. Teilweise völlige Panik vor Kontakten zum Vater. Also wenn der nächste Umgang anstand, dass dann plötzlich emotionale Reaktionen kamen aus dem Nichts. Ja, Angst, die in Alpträumen und in Schreianfällen deutlich geworden ist.“ 

Die Ängste der Kinder sind offiziell festgehalten. Die Dokumente liegen uns vor.  

Doch vor Gericht spielt die Gewalt keine Rolle. Der gerichtlich angeordnete Gutachter kommt zu dem Schluss: die Mutter sei das Problem. Sie sei Bindungsintolerant, manipulativ und würde die Kinder absichtlich vom Vater „entfremden”. Das Gericht entzieht ihr darauf hin das Sorgerecht.  

Tanja M.:
„Also als erstes dachte ich, dass es eigentlich kein Gutachten über uns ist, über uns sein kann, weil… so, wie ich dargestellt wurde. Also ich war fassungslos.“ 

Was genau wurde Ihr unterstellt? Was ist mit Bindungsintoleranz oder mit Entfremdung gemeint? Das Konzept hat er geprägt, der US-Psychiater Richard A. Gardner, nannte es Parental Alienation Syndrome (kurz PAS). Es besagt, dass Kinder, die nach einer Trennung plötzlich einen Elternteil ablehnen und verteufeln, von dem anderen Elternteil massiv manipuliert gewesen sein müssen. Also das, was auch Tanja M. unterstellt wurde.  

Der Kindeswille zählt nicht 

Doch das Konzept wird von Psychotherapeuten und Psychologen europaweit seit Jahren zurückgewiesen. Auch von Prof. Sabine Walper vom Deutschen Jugendinstitut, das Bund und Länder berät. Ihr zeigen wir das Gutachten, dass bei Tanja M. zu einem Sorgerechtsentzug geführt hatte. Für sie: inakzeptabel.  

Prof. Sabine Walper
Prof. Sabine Walper | Bild: SWR

Prof. Sabine Walper, Direktorin Deutsches Jugendinstitut: 
„Das Konzept der Entfremdung, ist oft genug widerlegt worden, als eine viel zu einfache Erklärung, die auch gefährlich ist, weil sie wirklich den Kindeswillen komplett ausschaltet aus der Betrachtung.“ 

Die Kinder kommen gegen ihren Willen zunächst ins Heim 

Bei den Kindern von Tanja M. hat das Konzept dazu geführt, dass sie gegen ihren Willen zunächst ins Heim kamen, dann zum Vater. Wo sie bis heute leben. Gegen den Gutachter hat Tanja M. Klage eingereicht.  

Gibt es noch mehr Mütter, denen Entfremdung und Bindungsintoleranz in Umgangsrechtsverfahren unterstellt wird?  

Wir recherchieren und stoßen bundesweit auf ähnlich gelagerte Fälle. Bekommen Gutachten und Urteile mehrerer Mütter aus ganz Deutschland anvertraut, denen unterstellt wurde, sie hätten sich die Gewalt nur ausgedacht, würden „Erinnerungen an angebliche Gefährdungssituationen” schüren und die Kinder bewusst entfremden. Die Kinder wurden ihnen in Folge weggenommen, die Gewaltvorwürfe nicht aufgearbeitet.  

„Keine wissenschaftliche Grundlage” 

Wir sind in Straßburg, beim Europarat. Hier ist bekannt, dass Gewalt gegen Mütter in einigen Fällen vor Gerichten keine Rolle spielt, weil ihnen anhand von PAS taktische Manipulation der Kinder vorgeworfen werde. Das geht aus dem aktuellen Deutschland-Bericht der Expertenkommission GREVIO hervor.  

Johanna Nelles
Johanna Nelles | Bild: SWR

Johanna Nelles, Exekutiv-Sekretärin der Istanbul-Konvention des Europarats: 
„GREVIO weist eigentlich schon seit Jahren darauf hin, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für dieses Konzept der elterlichen Entfremdung oder PAS oder anderen ähnlich gelagerten Konzepten gibt. Diese Vorwürfe, die gewaltbetroffenen Müttern gemacht werden, halten sich aber tatsächlich hartnäckig, wie GREVIO immer wieder in fast allen seinen Berichten nachweisen kann.“   

Auch die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat 2023 in ihrem Bericht vor der Verbreitung dieser - so wörtlich - Pseudowissenschaft gewarnt. Doch warum hält sich das Konzept so hartnäckig?  

Im Internet stoßen wir auf viele Webseiten von diversen Vereinen, die sich unter anderem für sogenannte Väterrechte einsetzen, die genau zu Eltern-Kind-Entfremdung Seminare für Fachleute anbieten und Trennungseltern beraten. Stefan Rücker, Psychologe, ist eine zentrale Figur hierbei. Seit Jahren tritt er immer wieder in verschiedenen Medien als Experte zum Thema auf, sagt, Entfremdung sei „seelische Misshandlung von Kindern“.  

Wir verabreden uns mit ihm zu einem Interview.  

Stefan Rücker, Psychologe:  
„Es ist tatsächlich so, dass wir international aus allen westlich orientierten Gesellschaften Forschungsergebnisse haben zum Thema Entfremdung, wenn wir mal bei diesem Begriff bleiben. Vielmehr ist es so, dass Deutschland sich schwertut, das zu akzeptieren.“ 

„Da geht jeder mit. Da kriegen sie weniger Widerstand” 

Wir bekommenen ein Video zugespielt von einer Tagung im vergangenen September. Stefan Rücker empfiehlt hier offenbar auch vor Jugendamtsmitarbeitern und Landtagsabgeordneten von SPD und CDU, einen neuen Begriff zu verwenden:  

Erinnerungsprotokoll: 
„Ich meine Entfremdung, aber Sie wissen, der Begriff ist umstritten, ideologisch massiv aufgeheizt. Da sagen viele das gibt es gar nicht. Vielleicht sagen wir gar nicht mehr Entfremdung, sondern trennungsinduzierter Kontaktabriss.  Das ist genau das Gleiche, aber es ist ein bisschen schöner formuliert. Da geht jeder mit. Da kriegen Sie weniger Widerstand.“  

Reporterin:  
„Warum haben Sie das Gefühl, dass Sie für einen neuen Begriff werben müssen?“   

Stefan Rücker
Stefan Rücker | Bild: SWR

Stefan Rücker, Psychologe: 
„Weil der alte verbrannt ist. Weil er ideologisch besetzt ist. Und weil es auch stimmt: wenn man das Konzept Entfremdung so eng fasst, wie Kritiker das tun, dann können wir darüber nicht diskutieren.“ 

Wir wollen noch ein weiteres Thema ansprechen, das gerade in der Öffentlichkeit diskutiert wird: Jahrelang stellte Rücker sich in den Medien und in Publikationen als Leiter der Arbeitsgruppe Kindeswohl der Uni Bremen vor. Doch die Uni Bremen sagt uns auf Nachfrage:  

Stellungnahme Universität Bremen: 
„Herr Rücker hat nicht an der Universität Bremen gearbeitet. (...) Wir haben Herrn Rücker aufgefordert, die Angabe, dass er die Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen leitet, in der Öffentlichkeit, auf seiner Homepage sowie in seinen Publikationen zu korrigieren.“ 

Reporterin:  
„Sagen sie doch bitte noch etwas zur Universität Bremen. Warum schmücken Sie sich mit einem wissenschaftlichen Titel?“  

Stefan Rücker, Psychologe:  
„Mit einem wissenschaftlichen Titel? Was meinen Sie denn damit?“  

Reporterin: 
„Mit einer Funktion. Sie sagen, dass Sie Leiter der Arbeitsgruppe Kindeswohl der Uni Bremen sind.“  

Stefan Rücker, Psychologe  
„Ja.“  

Reporterin:  
„Das steht sogar in Ihrer Signatur.“ 

Stefan Rücker, Psychologe:  
„Ja. Was. Das ist doch kein...  sieht man, wie schlecht Sie informiert sind. Das ist kein wissenschaftlicher Titel. Wissenschaftler Titel ist Doktor zum Beispiel.“  

Reporterin:  
„Eine wissenschaftliche Funktion.“ 

Stefan Rücker, Psychologe:  
„Wir lassen das. Nein, das ist ja nicht fair, was Sie hier machen.“   

Richterschulungen mit umstrittenem Konzept 

Und auch zu folgendem Sachverhalt bekommen wir von ihm keine Antwort: Unseren Recherchen zufolge soll es im Oktober eine Veranstaltung für Familienrichter geben, wo er auch im Programm steht. Der Veranstalter: ebenfalls ein Vertreter des umstrittenen Entfremdungskonzepts. 

Richterin Gudrun Lies- Benachib hat diese Einladung erhalten – und sieht das kritisch. 

Gudrun Lies-Benachib
Gudrun Lies-Benachib | Bild: SWR

Gudrun Lies-Benachib, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Frankfurt 
„Wenn nicht offen gesagt wird: das ist eine Fortbildung, die wird angeboten von einem Väterverband... dann entsteht bei mir schon so ein bisschen der Eindruck, dass man erst mal verschleiern möchte, wer da sitzt und wer da etwas erzählt. Wenn ein sehr junger Familienrichter eine Fortbildung bekommt, in dem das PAS als das Erklärungsmodell verwendet wird, dann ist die Gefahr gegeben, dass dieser junge Richter das fortan glaubt. Und wenn sich das ereignet, dann hat eine gute Familienjustiz schlicht verloren.“   

Die Expertenkommission GREVIO des Europarats fordert deshalb Deutschland auf, für mehr Aufklärung bei den Behörden und bei den Gerichten zu sorgen. Immerhin; Das Bundesverfassungsgericht hat in einem jüngeren Urteil PAS als unwissenschaftlich abgewiesen. Doch der Fall von Tanja M. und vielen anderen Müttern aus unserer Recherche zeigt, dass das offenbar noch nicht bei jedem Gericht angekommen ist.  

Stand: 06.06.2024 00:20 Uhr