Ghetto statt Integration – Flüchtlinge in Massenunterkünften
Direkt an zwei Hauptstraßen, am Rande von Berlin, weit weg von allem, sollen bald 1200 Flüchtlinge in drei Hochhäusern untergebracht werden. Dafür wird zurzeit ein Hotel umgebaut. Kann so Integration gelingen?
Bereits 2017 hatte sich REPORT MAINZ ähnliche Großprojekte angeschaut und kritisch hinterfragt: entsteht hier eine Parallelwelt? Sieben Jahre später schaut REPORT sich die Unterkunft erneut an und zieht Bilanz. In Obermehler in Thüringen sind weiterhin 850 Personen in einer alten Sowjet-Kaserne mitten im Nirgendwo untergebracht. Es gibt viele soziale Spannungen und immer wieder Polizeieinsätze. Der Austausch mit Anwohnern aus dem nächsten Dorf findet so gut wie nicht statt. Hat man aus alten Fehlern für zukünftige Projekte gelernt?
Unterhaltung zwischen Guido Richter und einem Grundschüler:
„Guten Tag. Wie heißt du?“ – „Matvii.“ – „Ich heiße Matvii, sag mal.“ – „Ich heiße Matvii.“ – „Ich heiße Herr Richter.“
Berlin Lichtenberg. Eine der vielen Förderklassen von Guido Richter. Hier versucht der Grundschulleiter die Kollegen zu entlasten. Ein Drittel aller neu eingeschulten Kinder sprechen nicht ausreichend deutsch, um dem regulären Unterricht folgen zu können und bekommen hier Nachhilfe.
Unterhaltung zwischen Grundschülern:
„Ich heiße Patricia. Wie alt bist du?“ - „Sieben.“
Guido Richter, Schulleiter Orankesee-Grundschule:
„Das was, was hier in Richtung Integration läuft, das muss in der Kita Zeit und in der Grundschulzeit erfolgen. Wenn uns das nicht gelingt, bis zum Ende der sechste Klasse, dann steht zu befürchten, dass die Kinder verloren sind.“
Ein Kraftakt, der für die Schule kaum noch zu schaffen sei. Trotzdem plant der Berliner Senat in den nächsten Jahren 6000 weitere Flüchtlinge in der Stadt unterzubringen. Allein in diesem ausgemusterten Hotel sollen bald 1200 Menschen unterkommen.
Guido Richter, Schulleiter Orankesee-Grundschule:
„Wir haben auf zwei Seiten von dem Komplex Hauptverkehrsstraßen. Gerade die Grundschulen, die hier in der Umgebung sind, sind schon teilweise überbelegt. Die Frage nach ärztlicher Versorgung stellt sich. Also die ganze Infrastruktur ist hier aus meiner Sicht nicht wirklich mitgedacht worden.“
Der Berliner Senat räumt ein, dass es kaum freie Wohnungen gäbe und man deswegen auf das Hotel zurückgreifen müsse: Man stünde vor enormen Herausforderungen. Große Sammelunterkünfte für Geflüchtete. In ganz Deutschland gibt es sie schon. Kann so Integration gelingen?
Sammelunterkünfte: REPORT MAINZ zieht nach sieben Jahren Bilanz
Das haben wir uns bei REPORT MAINZ schon 2017 gefragt. Obermehler mitten in Thüringen. Hier steht schon seit sieben Jahren eine Gemeinschaftsunterkunft.
Rückblick:
750 Menschen leben in ehemaligen sowjetischen Kasernen, mehrere Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt. Viele sind bereits etliche Monate da, sind schon anerkannt. Aber obwohl sie woanders hinziehen dürften, sollen sie lieber in den Wohnungen bleiben, hinterm Zaun. Der wurde extra gebaut. Diese Vision eines Flüchtlingsdorfes hatte er Harald Zanker, Landrat des Unstrut-Hainich-Kreises. Er hat das Gelände sanieren lassen.
Harald Zanker, ehemaliger Landrat Unstrut-Hainich-Kreis (7. März 2017):
„Sie leben wie wir in einem Dorf in einem gemeinsamen Umfeld, wo sie für sich selber, aber auch für andere ihr Leben gestalten."
Damit sie das neue Dorf am besten gar nicht verlassen müssen, gibt es eine Praxis mit Krankenschwester und einem Arzt, der selbst Migrant ist. Dazu noch ein Büro mit Sozialarbeitern vom Landkreis. Außerdem wird auf dem Gelände ein Sozialzentrum gebaut, mit Jugendklub, Sprachkursangeboten und vielem mehr. Nur zum Einkaufen müssen sie raus nach Schlotheim, drei Kilometer weit weg. Fernab von der Gesellschaft. Kann da Integration gelingen? Entsteht hier nicht gerade eine Parallelwelt?
Wir versuchen, mit Dorfbewohnern zu sprechen, wollen fragen, ob sie Kontakt mit Personen aus dem nächsten Ort haben. Aber die Gesprächsaufnahme ist gar nicht so einfach. Flüchtlinge, die Kontakte außerhalb der Siedlung haben, finden wir trotz vielen Suchens nicht.
Unterhaltung zwischen Reporterin und einem Flüchtling:
„Haben Sie deutsche Freunde gefunden, kennen Sie Deutsche?“ – „Nein, nicht Germany. Nicht deutsch. Alles serbisch, arabisch, afghanisch, kurdisch. Nicht german.“
Und dort drüben leben die Deutschen. Im idyllischen Schlotheim gibt es einen Austausch. Wir fragen auch hier mal nach:
Unterhaltung zwischen Reporterin und Anwohnern:
„Kennen Sie Flüchtlinge auch persönlich?“ – „Nein, kenne ich nicht. Also, die laufen auch nur an uns vorbei. Manche sagen Hallo mache gar nicht.“ – „So ein Austausch zwischen Einheimischen und denen gibt es das?“ – „Nein, kann ich nicht sagen.“
Flüchtlinge bleiben unter Flüchtlingen deutsche unter Deutschen, ist das sinnvoll?
Wie ist die Situation heute?
Eine Mitarbeiterin gibt eine Führung:
„Hier hinten sind zwei Blocks, und hier sind nochmal drei Blocks.”
Sieben Jahre später ist der neue Landrat Thomas Ahke in der Unterkunft zu Besuch. Er ist erst seit wenigen Wochen im Amt - Begehung mit seinem Team und dem Bürgermeister der Nachbargemeinde. Hier im Sozialzentrum gibt es noch immer eine Sprachschule, Kita und Sozialarbeiter. Und eigentlich kaum Gründe ins nächste Dorf zu müssen.
Mitarbeiterin:
„Hauptbelegung haben wir Syrer, dann kommt die Gruppe der Afghanen.”
Aktuell ist die Unterkunft mit 850 Menschen voll am Anschlag. Fast ein Drittel der Bewohner hat eine Aufenthaltserlaubnis. Manche bleiben nur ein paar Wochen, andere Jahre. Der neue Landrat muss einräumen, dass die Kritiker von damals Recht hatten:
Thomas Ahke, Landrat Unstrut-Hainich-Kreis:
„Rückblickend betrachtet ist es nie gut, Menschen an einer Stelle zu konzentrieren, die keinen Zusammengehörigkeitsgefühl haben. Insofern kann man so eine Gemeinschaftsunterunterkunft durchaus kritisch sehen, weil es uns hier nie gelingen wird, die Menschen so zu integrieren, wie wenn ich sie mehr in die Fläche gebracht hätte.”
Mit schwerwiegenden Folgen: Die Spannungen zwischen der Nachbargemeinde und der Unterkunft nehmen zu. 2017 wird auf die Unterkunft geschossen. Immer wieder kommt es zu größeren Polizeieinsätzen auf dem Gelände, weil es zwischen den ethnischen Gruppen zu Streit kommt. Wie schon vor sieben Jahren bleiben Flüchtlinge und Dorfbewohner unter sich, weil es im täglichen Leben kaum Berührungspunkte gibt. Und trotzdem sind die Asylsuchenden im Dorf überall zu sehen. Auf fast 4000 Schlotheimer kommen fast 1000 Migranten.
Schlotheimerin:
„Wir sind hier wirklich auf dem flachen Land. Und da ist dann das Interesse nicht groß, am Andersartigen, sag ich jetzt mal so.“
Alexander Blankenburg, Bürgermeister Nottertal-Heilinger Höhen:
„Da geht es um Vermüllung im Stadtgebiet, das Wegelagerei, sag ich mal als Beispiel. Kriminalitätsphänomene. Es ist sehr vielfältig und die Bürger haben Bedenken. Für uns ist eine Grenze erreicht, also eine Grenze der Belastbarkeit, was eine Integration nicht mehr fähig macht.“
Mohammad Alzain, syrischer Flüchtling, betritt die Wohnung:
„Hallo!”
Also wie könnte Integration gelingen? Gibt es hier überhaupt entsprechende Angebote? Mohammad Alzain lebt seit ein paar Monaten in der Großunterkunft. Zusammen mit sechs weiteren Syrern auf drei Zimmern. Alle träumen von einem eigenen Zuhause. Doch freie Wohnungen gibt es im drei Kilometer entfernten Schlotheim kaum. Genauso wenig wie Möglichkeiten sich zu integrieren. Nur alle zwei Wochen den sogenannten Knotenpunkt:
Unterhaltung zwischen Mohammad Alzain und einer Frau:
„Auf Arabisch: البصل الأخضر.“ – „Auf Deutsch: Frühlingszwiebel.”
Beim gemeinsamen Kochen und Essen kommt man automatisch ins Gespräch. Muhammad ist einer der wenigen Flüchtlinge, der dafür den langen Weg auf sich nimmt:
Mohammad Alzain, syrischer Flüchtling:
„Jedes Mal wenn ich hierher komme, komme ich, um ein Lachen zu sehen. Wenn ich ein Lachen sehe, dann bin selbst glücklich und behalte mir das im Herzen. ‚Danke schön‘. Ich bedanke mich bei allen, die mir helfen das Leben hier zu meistern.“
Alexander Blankenburg, Bürgermeister Nottertal-Heilinger Höhen:
„Hier werden die Probleme im Kleinen gelöst, die wir leider im Großen in der Stadt nicht lösen können. Es kann nicht funktionieren mit einer überforderten Stadt. Man muss auch Strukturen dafür schaffen, dass diese Integration gelingt. Es bringt nichts, Menschen in eine Gemeinschaftsunterkunft einzupferchen, sag ich mal so und sich selbst zu überlassen.“
Professorin Birgit Glorius: Die aktuelle Diskussion gehe am Kern vorbei.
Überforderte Kommunen und Landkreise. Ein bundesweites Problem, weiß auch Professorin Birgit Glorius. Die Migrationsexpertin hat zahlreiche große Gemeinschaftsunterkünfte untersucht:
Professorin Birgit Glorius, Migrationsforscherin TU Chemnitz:
„Das ist die schlechteste Lösung, um ankommende Menschen zu integrieren, wenn es dann darum geht, wirklich individuelle Startmöglichkeiten auch zu verschaffen. Wege in die Gemeinschaft, dass Kinder auch in der Schule ankommen können, dass ein normales Familienleben stattfinden kann, dass selbstständige Entscheidungen getroffen werden, dass man Ruhe hat. Das geht nur in einer Wohnung.“
Vielmehr müsse man Geflüchtete verteilt und durchmischt unterbringen. Davon ist man in Berlin weit entfernt. Grundschulleiter Guido Richter sieht seine und die anderen Grundschulen im Bezirk vor großen Herausforderungen. Doch am meisten Sorgen macht er sich um die Familien, die hierherziehen:
Guido Richter zu Grundschülern:
„Wo kommt die her?“ – „Beim Baum.“ – „Die kommt vom Baum.“
Guido Richter, Schulleiter Orankesee-Grundschule:
„Integration hat ja auch immer was mit Wohlfühlen und Willkommenskultur zu tun. Und wie sich das dem einzelnen vermittelt, der hier in so einem riesengroßen Molloch untergebracht wird, mag ich mir auch nicht vorstellen.“
Fazit: In Berlin und anderswo werden alte Fehler wiederholt. Während im Bundestag über Abschiebungen und Grenzkontrollen diskutiert wird. Kommunen und Landkreise fühlen sich alleingelassen. Wie Integration wirklich gelingen kann, darüber wird momentan kaum gesprochen.
Stand: 25.09.2024 14:00 Uhr