Albtraum IS – Ein Vater kämpft um seine Familie

Der Rentner Werner aus Baden-Württemberg kämpft darum, dass sein Sohn Dirk nach Deutschland zurückkehren darf. Obwohl der bei einer brutalen Terrororganisation war. Dirk ging zum IS nach Syrien, sagte sich dann von der Terrormiliz los und sitzt seit sieben Jahren in Nordostsyrien in Haft, ohne Anklage.  

Noch mindestens 30 weitere deutsche Männer sind dort inhaftiert. Anders als Frauen und Kinder will die Bundesregierung sie allerdings nicht nach Deutschland zurückholen und hier vor Gericht stellen. Sie verweist auf das Strafverfolgungsinteresse der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Doch Gerichtsprozesse gibt es dort bis heute nicht. Und nach dem Sturz Assads ist offener denn je, wie künftig eine sichere Bewachung der IS-Gefängnisse in Syrien aussieht.  

Inzwischen ist Dirk Vater geworden, die Mutter konnte sich mit dem Kind in die Türkei durchschlagen. Werner kämpft auch darum, dass die beiden nach Deutschland einreisen können. REPORT MAINZ hat Werners Geschichte über mehr als sechs Jahre beobachtet. 

Text des Beitrags:

Dirk: 
„Ich bin stolz auf dich, mein Vater. Du hast mich immer beschützt wie ein Löwe. Und es tut mir leid.” 

Das ist Werner. Seit mehr als sieben Jahren kämpft er um seinen Sohn. Und um seinen Enkel.

Werner: 
„Was ist ein Menschenleben wert? Und was ist ein unschuldiges Kind wert?“ 

Und das bin ich: Als Journalist beobachte ich Werners Geschichte schon seit vielen Jahren. Mitte Januar organisiert er in Berlin, vor dem Auswärtigen Amt, eine Mahnwache für seinen Sohn.  

Dirk ging 2015 zur Terrororganisation IS, sagte sich dann von ihr los und sitzt seit sieben Jahren in Nordsyrien in Haft - ohne Gerichtsprozess, in einem Gefängnis wie diesem.  

Werner will, dass Deutschland seinen Sohn zurückholt. Vom Auswärtigen Amt fühlt er sich im Stich gelassen.  

Werner
Werner | Bild: SWR

Werner: 
„Sie tun halt nichts. Und ich kann nicht mit einer Kalaschnikow ins Auswärtige Amt gehen und sagen, so jetzt mal lüpft mal eure Hintern und tut was.“  

Eric Beres, Journalist: 
„Puh, starker Tobak. Ehrlich gesagt, ich musste mich an Werners Ausdrucksweise erst gewöhnen… 

Lange Zeit war es ja ruhig um das Thema IS und Syrien. Doch dann kam es zu neuen Anschlägen, zB. in Solingen. Und in Syrien stürzt plötzlich das Assad-Regime. 

Mittendrin: Werner, der mit dem Thema bis heute nicht abschließen kann. Auch mich lässt seine Geschichte bis heute nicht los.  

Zum Beispiel die Frage: Hat sein Sohn Dirk das Recht, nach Deutschland zurückzukehren? Obwohl der bei einer brutalen Terrororganisation war?“ 

Syrien, 2018: Der IS ist auf dem Rückzug. Viele IS-Kämpfer werden von kurdischen Milizen gefangen genommen.  
Im Herbst 2018 treffe ich Werner zum ersten Mal. Damals will er noch unerkannt bleiben. Und das ist Dirk. Ein Zeitungskollege der WELT führt in Nordsyrien mit ihm dieses Interview. Dirk war zu den Kurden geflohen. Mit Mitte 30 sitzt er nun im Gefängnis.   

Dirk:  
„Ich bin jetzt etwa ein Jahr, einen Monat und vielleicht eine Woche im Gefängnis.” 

Eigentlich klingt Dirk ganz gefasst. Aber Werner sieht das nicht so: 

Werner:  
„Den kannst du wegschmeißen, der ist fertig. Der kriegt nie mehr einen Schuh auf den Boden. Der braucht eine Psychotherapie, die sich fortschreibt.“ 

Dirk streitet ab, Verbrechen begangen zu haben. Er habe zwar anfangs eine Kampfausbildung bekommen, habe dann aber als gelernter Orthopädie-Schumacher nur Prothesen angefertigt. Auch für verletzte IS-Kämpfer.   

Dirk: 
„Ich habe zwischen acht und zwölf Prothesen im Monat gebaut. 

Ich war im Kampf nicht involviert. Ich habe meine Arbeit gemacht und bin nach Hause gegangen, zum Markt und wieder zurück.“ 

Werner:  
„Er will nur helfen, und das glaube ich ihm, dass er sich da von den aggressiven Leuten distanziert, dass er nur die Prothesen gemacht hat. Er neigt nicht zum Extremismus. Der hat viel zu viel Schiss.“ 

Eric Beres, Journalist: 
„Moment mal, kann es sein, dass man einfach zum IS spaziert und dann nur Prothesen baut?“ 

Tatsache ist: Dirk hat sich - schon in Deutschland - in sehr radikalen Kreisen bewegt. 

Und zwar hier, in einer Moschee in Pforzheim. Vor mehr als zehn Jahren habe ich beobachtet, wie junge Menschen hier gezielt eingeladen wurden. Mir wurde damals dieses Video zugespielt. Es zeigt Dirk. Man hat den Eindruck, als ob die Moschee sein zweites zu Hause wäre. Doch in der Moschee gingen damals Salafisten ein und aus. Radikale Prediger wie Abul Baara. Er wird noch heute vom Verfassungsschutz beobachtet.  

Wie fanatisch Salafisten sein können, erlebe ich damals auch vor einer Moschee in Köln. Ein Mann erklärt uns, für wen aus seiner Sicht das Paradies und für wen die Hölle bestimmt ist.   

Silvio K.: 
“Jeder, der vom Islam gehört hat und das annimmt, kommt ins Paradies. Wer den Islam gehört hat und nicht annimmt, der kommt nicht ins Paradies. Hölle, ewiges Feuer.“  

 Übrigens: Dieser Mann wird in Dirks Leben noch eine wichtige Rolle spielen.  

Ab 2011 beginnt in Syrien der Bürgerkrieg. Islamisten gewinnen auf Seiten der Opposition an Boden und verkaufen den Krieg als “Heiligen Krieg”. Terroristenführer Abu Bakr Al-Baghdadi ruft den so genannten Islamischen Staat aus. Zu Hunderten zieht es Deutsche nach Syrien. Auch Dirk radikalisiert sich und verschwindet schließlich. Von seiner Ausreise nach Syrien bekommt Werner nichts mit.  

 Der IS begeht in Syrien unvorstellbare Gräueltaten. Wer sich ihnen entgegenstellt, muss mit dem Tod rechnen. So wie er – Silvio K. der Mann, dem ich in Köln begegnet war. Auch er reist später nach Syrien zum IS und kritisiert dann einzelne Kämpfer öffentlich. 

 Silvio K: 
„Cowboys, Aktionhelden und Rambos, die nur auf Vernichtung aus sind, brauchen wir nicht in unseren Reihen.“  

Er soll dafür mit seinem Leben bezahlt haben. Vom IS umgebracht. So berichtet es Dirk. Beim IS sei er ein Nachbar von Silvio K. gewesen. Dessen Schicksal hat ihn offenbar schwer getroffen.   

Dirk
Dirk | Bild: SWR

Dirk: 
„Das war letztlich auch der Grund, warum ich auf keinen Fall mehr bereit war, den Staat und die Leute darin zu unterstützen.“ 

Werner glaubt, dass Dirk niemanden umgebracht hat. Im Herbst 2019 treffe ich ihn wieder. Er will sich jetzt nicht mehr vor der Öffentlichkeit verstecken, auch nicht sein neurologisches Handicap, das er von Geburt an hat. Das lässt seine Mimik, seine Bewegungen manchmal ungelenk erscheinen. 

Werner wendet sich an Abgeordnete, will dass die Bundesregierung seinen Sohn zurückholt. In Deutschland werde sich Dirk der Justiz stellen. Im kurdischen Gefängnis hingegen sei immer noch die islamistische Ideologie präsent.  

Werner: 
„Einige haben sich vielleicht wieder re-radikalisiert. Und man arbeitet dem IS in die Hände. Und das finde ich nicht gut.“  

 Doch das Auswärtige Amt sagt: Es fehlt an offiziellen Beziehungen nach Syrien und ins Kurdengebiet. Eine konsularische Betreuung sei “weiterhin nicht möglich”. Also keine Kontakte zu den Gefangenen.  

 Dirks Reise zum IS hat noch ganz andere Folgen: In Syrien hat er geheiratet. Das ist seine Frau, eine Syrerin. Um sie zu schützen, nenne ich sie Latifa. Und das ist Jamal, Dirks Sohn, der aus der Beziehung mit Latifa hervorgegangen ist. Eines Tages meldet sich Latifa bei Werner. Aus einem Camp für IS-Familien.  

 Werner: 
„Da haben verschiedene Frauen Smartphones. Und sie hat mich dann angerufen, hat mich um Hilfe gebeten. Sie hat kein Geld. Sie muss Essen kaufen. Sie muss vor allen Dingen Gemüse und Obst kaufen für das Kind.“ 

 Latifa und Jamal waren in diesem Lager gelandet. Doch bald werden die beiden entlassen. Mit Hilfe von Schmugglern schlagen sie sich in die Türkei durch.  

  Das Geld dafür kommt von Werner und seiner Frau. Mit Hilfe internationaler Finanz-Dienstleister überweisen sie immer wieder Geld in den Nahen Osten. Nicht nur fürs Schmuggeln.    

 Werner: 
„Insgesamt, mit Lebensunterhalt, bis heute 17 Tausend.“  

 Frage:  
„Wie finanzieren Sie sowas?“ 

Werner: 
„Wir haben ein Depot angegriffen. Rücklagen angegriffen.“ 

 Frage:  
„Ist es das alles wert?“  

 Werner: 
„Was ist ein Menschenleben wert? Und was ist ein unschuldiges Kind wert? Es gibt doch nichts Wertvolleres wie ein Kinderleben zu bewahren. Und ihm alle Chancen einräumen zu können, die man als Möglichkeiten hat.“ 

  Kann Jamal tatsächlich nach Deutschland kommen? Ist er überhaupt Werners Enkel? Werner hat ein DNA-Gutachten in Auftrag gegeben. Wochen später kommt Post vom Labor. Das hat zwei Speichelproben verglichen. Die von Werner, die er bei einem Arzt in Deutschland abgegeben hat. Und die von Jamal, die der Junge beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul hinterlegt hat.  

 Werner: 
„W-Wert: 99,998840 Prozent.“ 

 Frage: 
„Was heißt das jetzt?“ 

 Werner: 
„Das heißt, dass definitiv mein Enkel mein Enkel ist und ich sein Großvater.“ 

 Jamal ist also Deutscher. Ende 2022 stellt das auch ein Gericht offiziell fest. Das für internationale Fälle zuständige Amtsgericht Berlin-Schöneberg.  

 Eric Beres, Journalist: 
„Nachdem das Gericht Berlin-Schöneberg entschieden hat, geht es ganz schnell mit dem deutschen Pass für Jamal. Der Junge könnte sofort in einen Flieger steigen und nach Deutschland reisen. Doch Werner ist klar, das geht in dem Alter nur zusammen mit der Mutter. Die Frage ist also: Bekommt Latifa, Jamals Mutter, ein Visum, zur Einreise nach Deutschland? Wir werden sehen…“ 

 Etwa zur gleichen Zeit in Nordostsyrien: Noch immer sind hier mehr als 10.000 ehemalige IS-Mitglieder inhaftiert - darunter sollen etwa 30 Deutsche sein. Mit Hilfe eines ARD-Teams können wir Dirk wieder einige Fragen stellen. 

 Dirk: 
„Ich wünsche mir ein bisschen mehr Essen. Sonst: Gesundheitlich bin ich okay. Man ist in einer aussichtslosen Situation. Man weiß nicht, was passiert.“ 

 Erst durch uns bekommt er neue Informationen. Er erfährt von dem deutschen Pass für seinen Sohn.  

 Dirk: 
„Es freut mich sehr, das zu hören. Ich bin stolz auf dich, mein Vater. Du hast mich immer beschützt wie ein Löwe. Und es tut mir leid.“ 

 Kurze Zeit später zeige ich das Interview Werner - zu Hause in Baden-Württemberg. In dem Interview beteuert Dirk wieder seine Unschuld. Er bittet um eine zweite Chance. Und er sagt, dass er an seiner Religion festhalten wolle.  

 Dirk: 
„Ich möchte als Muslim leben und als Muslim sterben. Ich will niemandem schaden. Jeder Mensch hat seinen Glauben. Aber Ich muss mich dem Koran und der Sunnah unterwerfen.” 

 Eric Beres, Journalist: 
„Mich treiben Dirks Aussagen um: Er scheint immer noch ein sehr strenges Religionsverständnis zu haben. Auch der IS hat ein sehr strenges Religionsverständnis propagiert, um sein Terror-Regime zu legitimieren.“   

 Im Sommer 2024 gibt es für Werner wieder Neuigkeiten. Aber dieses Mal keine guten. Das Visum für Latifa wurde abgelehnt. Begründung: Latifa sehe sich selbst vor allem als Opfer und habe sich bis heute nicht vom IS distanziert.  

 Werner: 
„Ich kann die Entscheidung nicht nachvollziehen, weil ich glaube meine Schwiegertochter einzuschätzen. Sie hasst den IS. Sonst wäre sie ja nicht mit dem Dirk abgehauen.” 

 Eine Familienzusammenführung in Deutschland klappt also nicht. Werner traut sich auch nicht in die Türkei zu reisen. Er befürchtet, dass er dort als Unterstützer von Terroristen verhaftet werden könnte. 

Wie sieht das alles eigentlich Latifa? Es gelingt mir, ein Interview mit ihr in der Türkei zu arrangieren. Sie warnt mich vor: In der Öffentlichkeit trete sie nur in Vollverschleierung auf. Und tatsächlich... Mitgebracht hat sie Jamal, Werners Enkel. Inzwischen ist er acht Jahre alt. Noch immer geht er nicht in die Schule. Latifa sagt, das hänge mit ihrem unsicheren Aufenthaltsstatus zusammen.  

  Und das abgelehnte Visum? Für den IS habe sie nie gearbeitet. Und mit Dirk sei sie 2017 unter großem Risiko geflohen.  

„Latifa“: 
„Die Entscheidung zur Flucht fiel fast ein Jahr davor. Aber wir hatten lange Angst, weil wir sahen, dass Menschen, die auf der Flucht erwischt wurden, eingesperrt oder getötet wurden. 

 In den Anhörungen im deutschen Generalkonsulat hätten Beamte immer wieder ihre Vollverschleierung thematisiert.  

 „Latifa“: 
„Sie sagten mir, bist du bereit, deine Kleidung abzulegen, falls du nach Deutschland gehst? Ich habe ihnen gesagt, nein ich bin nicht bereit dazu. Diese Kleidung ist ein Symbol meines Glaubens, und ich werde sie nicht aufgeben. Wenn sie ein Symbol des IS wäre, würde ich sie aufgeben.”  

 Eric Beres, Journalist: 
„Fest steht: Latifa hat als Hausfrau ihrem Ehemann den Rücken freigehalten und dadurch den IS unterstützt. In anderen Fällen haben so jedenfalls deutsche Gerichte und Behörden argumentiert.“ 

 Jamal und Latifa bleibt also nur eine Fernbeziehung zu den Verwandten in Deutschland. Von Werner haben sie ein Paket bekommen. Mit einer Tasche voller Kleidung und Spielsachen. 

„Jamal“:    
„Lego…“   

 Kurze Zeit später geschieht etwas, was auch für Werners Familie von Bedeutung sein könnte. Am 08. Dezember stürzt in Syrien der langjährige Machthaber Assad. Im Nordosten gibt es Kämpfe zwischen der kurdischen SDF und Milizen, die von der Türkei unterstützt werden. 

 Es gibt die Befürchtung, IS-Kämpfer könnten die Gefängnisse stürmen. Längst fordern Staaten wie die USA und die Türkei, Länder wie Deutschland sollten ihre Landsleute zurückholen.  

 Wie sieht das die Bundesregierung? Immerhin hat sie jetzt wieder offiziellen Kontakt nach Syrien. Die deutsche Außenministerin besucht die neuen islamistischen Machthaber in Damaskus. Doch in ihrem Ministerium gibt es keine neue Linie, wie Baerbocks Pressesprecherin verkündet:   

 Kathrin Deschauer, Pressesprecherin, Auswärtiges Amt (15.01.2025):  
„Eine Rückholung von inhaftierten deutschen Männern aus Nordostensyrien ist nicht geplant.”  

 Auf weitere Nachfrage teilt man mir mit: Die kurdische Selbstverwaltung verweise auf ihr Recht, die Männer selbst vor Gericht zu stellen. Nur: Strafprozesse gibt es bis heute nicht.   

 Eric Beres, Journalist: 
„Seit mehr als sechs Jahren beobachte ich nun Werner im Kampf um seine Familie. Eine Lösung ist noch immer nicht in Sicht. Wenn ich mit anderen Menschen darüber spreche, sagen viele: Soll Dirk doch bleiben, wo er ist. Selbstgewähltes Schicksal. Und wer weiß, wie gefährlich er ist. Fest steht aber auch: In Deutschland hätte Dirk das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, auf menschenwürdige Behandlung. Und ein Recht auf Resozialisierung.“ 

 Werner will die Hoffnung nicht aufgeben. Mitte Januar: Direkt gegenüber vom Auswärtigen Amt stellt er sein Transparent auf. Doch es ist mühsam für ihn, Passanten für die Geschichte seines Sohnes zu interessieren. Wie auch die Bundesregierung.    

 Werner: 
„Ich habe die Befürchtung, dass die das einfach aussitzen. Weil die Leute nützen ihnen nichts, sie bringen ihnen keine Vorteile. Die bringen ihnen keine Sympathiepunkte, wenn sie die Leute jetzt nach Hause holen. Was willst du machen?“ 

Stand: 13.02.2025 12:57 Uhr