Ausgeliefert - Die Macht der Chefärzte
Das ARD-Politikmagazin hat Frauen getroffen, die dieses System nicht länger hinnehmen wollen. Sie wehren sich gegen ihre Chefärzte, denen trotz mutmaßlichem Fehlverhalten von Klinikseiten der Rücken gestärkt wird. Die Ärztinnen geraten so ins Abseits, werden gekündigt und ihrer Karrieren beraubt. Experten beklagen ein strukturelles Problem in deutschen Kliniken.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Ich hatte den Eindruck, dass man mich psychisch so fertig machen will, zermürben will, bis ich irgendwann sage, ich gehe freiwillig.“
Bettina Oertel, Schwester von Dr. Elke Küßner:
„Meine Schwester ist vernichtet worden von ihrem Chefarzt und von dem Geschäftsführer des Klinikums. Und das kann ich nicht hinnehmen. Ich möchte es nicht im Raum stehen lassen, dass man so mit einer Ärztin umgegangen ist.“
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
„Das wurde dann schon ein ganz erbitterter Kampf gegen meine Person. Weil ich “Nein” gesagt habe. Weil ich gesagt habe, so geht das nicht, so könnt ihr mit Frauen nicht umgehen. Dann wurde ich gekündigt.“
Es sind gravierende Vorwürfe, die drei Ärztinnen hier erheben: sie beklagen Benachteiligung, Mobbing, Übergriffe. Sind sie Opfer eines Systems, in dem Chefärzte rücksichtslos regieren – oft vor allem zum Nachteil von Ärztinnen?
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Ich wusste das schon als Kind, dass ich Ärztin werden will, weil man einfach Menschen helfen kann. Und vor allem dann auch der Bereich Sportmedizin. Weil ich komme selber aus dem Sport. Ich habe viele Jahre dafür gearbeitet. Und das ist quasi jetzt, mit einem Tag, ist das komplett alles weg, also komplett. Und ohne, dass man irgendetwas dafürkann. Das find ich das, was wirklich hart ist. Und schwierig auch, zu verstehen.“
Dr. Katrin E. war einmal leitende Oberärztin. Ihr Leben schien bisher eine einzige Erfolgstory. Sie war erfolgreiche Triathletin, Mannschaftsärztin des Deutschen Skiverbands, behandelte Spitzensportler und Olympiasieger an der Klinik der TU München.
Doch im Februar dieses Jahres ist das vorbei. Da kommt es zu einer Auseinandersetzung mit Ihrem Chefarzt. Der Ausgangspunkt, nur ein Missverständnis wegen einer Personalsache. Doch die Situation sei plötzlich völlig eskaliert.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Es gab einen Vorfall im Februar zwischen meinem Chef und mir. Weshalb ich ihn dann letztendlich angezeigt hatte wegen Körperverletzung im Amt. Weil ich wurde, ja, tätlich angegangen von ihm.“
Katrin E. hat bei der Kriminalpolizei angegeben, was genau hier im Büro des Chefarztes passiert sein soll. Der Chefarzt selbst bestreitet das. Doch die Auseinandersetzung geht auf dem Flur weiter – dort sind sie nicht mehr allein. Es gibt einen Augenzeugen, der will nicht vor die Kamera, hat uns aber geschildert, wie er die Situation wahrgenommen hat.
Der Augenzeuge sieht Katrin E. hinter einer Glaswand, dann sei der Chefarzt auf sie zugekommen. Er habe “super-aggressiv” gewirkt. Der Chefarzt habe Katrin E. angeschrien. “Sie verlassen jetzt die Abteilung!” Die habe sich gefügt. “Ja, ja, ich geh ja schon”. Dennoch habe der Chef sie erst am Arm und dann noch an der Schulter gepackt und sie Richtung Aufzüge geschoben.
Der Augenzeuge erzählt, es habe ausgesehen, als ob ein Türsteher jemanden aus einem Club geworfen hat. Katrin E. sei geschockt gewesen, habe den Zeugen angesprochen, ihm ihr Handgelenk gezeigt.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Ich wusste im ersten Moment überhaupt nicht, wie ich damit umgehe, also ich war wie in so einer Schockstarre eigentlich. Mir ist so was noch nie im Leben passiert. Und ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein Vorgesetzter sowas macht mit einem Mitarbeiter.“
Noch am Abend meldet sich Katrin E. bei einer ihr vertrauten Ärztin. Auch sie arbeitet an einer Klinik, die zur TU München gehört. Obwohl es für sie rechtliche Konsequenzen haben könnte, spricht Dr. Cornelia Löffel mit mir über diesen Abend.
Dr. Cornelia Loeffel, Allgemeinmedizinerin:
„Ja, meine Kollegin war irgendwie gar nicht so wirklich da. Sie war schon deutlich schockiert. Ich habe sie dann versucht, zu beruhigen, habe ihr was zum Trinken gegeben. Das konnte sie gar nicht halten mit der rechten Hand, weil das so schmerzhaft war, diese Verletzung. Der rechte Unterarm war in der unteren Hälfte komplett geschwollen, war deutlich gerötet bis zum Handgelenk. Und es waren auf der Außenseite drei Einstiche oder Abdrücke, die auch geblutet haben, immer wenn sie sich bewegt hat.“
Was sagt der Chefarzt selbst zu diesen Vorwürfen?
Sein Anwalt verweist auf einen gerichtlichen Schriftsatz der Klinik: Darin steht u.a., der Chefarzt habe Katrin E. lediglich “mit ausgestrecktem Arm Richtung Tür” geschoben. Weiter heißt es: Auf dem Flur “fasste er” Katrin E. “am linken Ärmel ihres Parkas und geleitete sie von dort [...] Richtung Aufzüge”.
Für diese Version benennt die Klinik ihrerseits Zeugen. Und: Katrin E.‘s Verletzungen seien auf einen “Fahrradunfall” oder eine “eine Selbstverletzung” zurückzuführen.
Am Tag des Vorfalls will Katrin E. noch keine Strafanzeige stellen.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Weil ich mir gedacht habe, gut, wir arbeiten schon so lange zusammen. Und vielleicht gibt es eine Entschuldigung. Oder er kommt nochmal irgendwie auf mich zu.“
Chefarzt “baut Drohkulisse auf”
Das tut er tatsächlich - in Form mehrerer Emails. Zuletzt schreibt er unter anderem:
Zitat aus Email des Vorgesetzten von Dr. Kathrin E.:
“Eine wesentliche Frage besteht für mich aktuell, ob Sie einem Auflösungsvertrag zustimmen oder nicht. Wenn ja, hätten wir einen reibungslosen und positiven Abschied ohne viel Aufsehens. Falls Sie dem nicht zustimmen, würde ich allerdings diejenigen, mit denen Sie zusammengearbeitet haben bitten, dass sie sich zu Interaktionen mit Ihnen schriftlich äußern. Damit wäre das Thema in sportmedizinischen Community und ihr Stand dort in Zukunft mehr als schwierig.“
Professorin Katja Nebe lehrt Arbeitsrecht an der Universität Halle. Was hält sie hiervon?
Prof. Katja Nebe, Leiterin Lehrstuhl für Arbeitsrecht, Universität Halle:
„Nach dem Lesen war ich sprachlos und fassungslos, weil der Inhalt ist ein deutliches Zeichen von Machtmissbrauch. Aus dieser Konfliktsituation heraus einer untergebenen Person anzutragen, sie möge ihr Arbeitsverhältnis auflösen, das entbehrt jeder Grundlage. Und dann war hier noch das Besondere, das er es damit verbunden hat, wenn sie das Angebot nicht annimmt, dass er dann gegen sie Stimmung machen wird, sozusagen in der Belegschaft nach negativen Erfahrungen mit ihr, die einsammeln wird, und die hätte er schon. Also er baut im Grunde genommen eine Drohkulisse auf.“
Eine machtlose Oberärztin, ein drohender Chefarzt und Kollegen, die sich angeblich abwenden - das alles erinnert mich an eine andere Frau, eine andere Ärztin, auf deren Spur ich mich diesen Sommer begeben habe.
Friedrichshafen, Mai 2024: Hier am Bodensee löste vor fast genau einem Jahr der Suizid der Oberärztin Dr. Elke Küssner bundesweit Entsetzen aus. Zuvor war es zum Bruch zwischen ihr und ihrem Chefarzt am Klinikum Friedrichshafen gekommen.
In der Wohnung der Verstorbenen bin ich verabredet mit ihrer Zwillingsschwester – sie erzählt mir, wie alles anfing. Dass ihre Schwester damals überzeugt war, dass Assistenzärzte in ihrem Klinikum schlecht ausgebildet seien, Patienten falsch behandeln würden. Ein Mensch sei deshalb gestorben. Elke Küssner meldet das ihrem Chefarzt, hofft auf eine konstruktive Lösung.
Bettina Oertel, Schwester von Dr. Elke Küßner:
„Sie hat dann mir aus diesem Gespräch berichtet: Sie war furchtbar erschüttert, weil die Reaktion ihres Vorgesetzten wohl war, sie solle dieses Thema nicht mehr problematisieren, sie solle es nicht mehr thematisieren. Wörtlich hat sie mir damals berichtet, er habe zu ihr gesagt, sie solle die Klappe halten, andernfalls wird er ihr diesen Fall anhängen.“
Nadia Kailouli, Moderatorin REPORT MAINZ:
„Haben Sie das Gefühl, dass die Ansage ihres Chefs ihre Schwester eingeschüchtert hat?“
Bettina Oertel, Schwester von Dr. Elke Küßner:
„Ja. Ganz klar. Also, sie hatte, ich glaube, sie hatte extreme Angst. Ich hatte sie noch nie so erlebt. Also ich muss wirklich sagen, das war wie für mich eine Zäsur. Seitdem hat sich Elke verändert.“
Drohungen vom Chefarzt, Mobbing durch die Kollegen
Elke Küßner beginnt jetzt, weitere Todesfälle zu dokumentieren. Und durch sogenannte „Gefährdungsanzeigen“ erfährt nun auch die Geschäftsführung von den Missständen. Doch die glaubt ihr nicht, stellt sich hinter den Chefarzt.
Ich treffe eine Kollegin von Elke Küßner– sie will anonym bleiben. Was ging damals in Elke Küßner vor?
Anonyme Kollegin von Dr. Elke Küßner:
„Als Frau Küßner klar wurde, dass auch die Geschäftsführung nicht hinter ihr stand, da haben so ein bisschen zwei Herzen in ihrer Brust geschlagen. Zum einen noch immer das, dass sie zum Wohle der Patienten was verbessern muss. Und das andere war aber mittlerweile, dass sie Angst hatte. Angst, ihre Existenz zu verlieren. Angst auch teilweise, dass man versucht, sie zu verleumden.“
War diese Angst begründet? Ich erfahre, plötzlich kursierte das Gerücht, Elke Küßner würde Oberarztkollegen anschwärzen. Das Resultat: eine schriftliche Distanzierung, unterschrieben von den engsten Kollegen und Kolleginnen. Sie sähen „keine Basis mehr für eine kollegiale und vertrauensvolle Zusammenarbeit“ mit Elke Küssner.
Warum handelten die Kollegen so? Am Klinikum Friedrichshafen treffe ich Reinhard Stadler. Er ist der Leiter des Ärztlichen Notdienstes und Anästhesist. Ich zeige ihm die unterschriebene Erklärung seiner Kollegen.
Reinhard Stadler, Oberarzt:
„Die Liste sehe ich zum ersten Mal, habe nur davon gehört“
Nadia Kailouli, Moderatorin REPORT MAINZ:
„Können Sie das nachempfinden, dass man als Kollege, als Arzt diese Liste unterschreibt?“
Reinhard Stadler, Oberarzt:
„Es ist immer schwierig. Die Kollegen sind auch stark unter Druck, unter Druck eines Chefarztes. Und wenn der Chefarzt ihnen sagt, die Elke hat ein Schwarzbuch geführt - was wohl nicht wahr war, was sie auch immer praktisch bestritten hat - dann kann ich mir schon vorstellen, dass man in eine Situation kommt, wenn man so was unterschreibt.“
„Ausgrenzung von Hinweisgebern ist psychische Gewalt”
Wie bewertet die Arbeitsrechtlerin Professorin Katja Nebe dieses geschlossene Abwenden der Kollegen?
Prof. Katja Nebe, Leiterin Lehrstuhl für Arbeitsrecht, Universität Halle:
„Das ist im Grunde genommen die perfideste Form von psychischer Gewalt, die man Menschen antun kann. Sozusagen den, der anfängt, die Anhaltspunkte zu dokumentieren, auszugrenzen. Das ist nicht nur persönlichkeitsrechtsverletzend, das halte ich fast für zu schwach formuliert, sondern das ist hochgradig perfide, weil es denjenigen auch in der beruflichen Community auf Jahre stigmatisiert. Der oder diejenige ist danach sozusagen gefühlt in einer aussichtslosen Lage, ist ein verbranntes Kind.“
Hat der Chef die Unterschriften-Liste veranlasst? Auf Nachfrage lässt er über seinen Anwalt ausrichten, er habe die Liste „weder erstellt, noch initiiert oder zirkuliert“.
Elke Küßner gerät immer weiter ins Abseits: sie soll weg-befördert werden. Als sie sich weigert, bescheinigt ein hinzugezogener Gutachter, sie sei als Ärztin “überfordert”. Für Elke Küßner dürfte das ein Schock gewesen sein.
War das der Auslöser, warum sie sich einem Außenstehenden anvertraut hat, einem Journalisten? Der Journalist des Südkurier und Elke Küßner treffen sich mehrere Male im Herbst vergangenen Jahres. Er zeichnet die Gespräche mit ihr auf.
Elke Küßner, auf Tonaufnahmen des Südkuriers aus dem Jahr 2023:
„Man darf nicht vergessen: mein Chef ist Ärztlicher Direktor. Da hast du keine Chance. Die Schweigespirale geht von oben nach unten, und jeder sieht jetzt, was mit mir gemacht wird. Und jetzt arbeitet eben er mit Hochdruck daran, mich aus der Klinik rauszukriegen. Aber das kriegt er nicht.“
Ich fahre nach Chemnitz, wo der Journalist Benjamin Schmidt heute arbeitet. Er wollte die Missstände im Klinikum aufdecken – zusammen mit Elke Küßner als Informantin. Doch es kommt anders.
Benjamin Schmidt, Journalist:
„Mein Eindruck war, dass der Druck auf sie immer größer wurde. Das hat sie verbal mir gegenüber ja auch geäußert. Sie hat auch gesagt: „die wollen mich zerstören, die wollen mich kaputtmachen.“
Am 29. November 2023 erfährt Elke Küßner, dass ihr fristlos gekündigt werden soll. Was muss da in ihr vorgegangen sein?
Am Abend ist Elke Küßner plötzlich nicht mehr erreichbar. Freunde machen sich Sorgen. Der gerufene Notarzt kommt zu spät. Elke Küßner hat sich das Leben genommen.
Interne Untersuchung soll Vorwürfe überprüfen
Ihr Grab in ihrer Heimatstadt Chemnitz. Monate später untersucht die Staatsanwaltschaft die Missstände, ermittelt gegen den Chefarzt. Und auch klinikintern untersucht man die Vorfälle.
Zurück in München. Auch Katrin E. hat von ihrer Klinik nach der Auseinandersetzung mit ihrem Chefarzt keinen Rückhalt bekommen. Im Gegenteil.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Und es gab dann ein Gespräch in der Personalabteilung. Aber es ging dann eigentlich um mich. Wo mir gesagt wurde, ich wäre ja eine so böse Person. Die Mitarbeiter würden alle wegen mir kündigen. Und ich wäre eine schlechte Ärztin. Und das hat mich wahnsinnig getroffen.“
Auch Katrin E. wird jetzt versetzt. Außerdem erteilt man ihr ein Kontaktverbot zu ihren ehemaligen Kollegen und Patienten. Schließlich erhält auch sie im Juli eine fristlose Kündigung.
Wir haben auch die Klinikleitung in München um Stellungnahme gebeten. Sie verweist auf das laufende Verfahren und schreibt:
Klinikleitung TUM – Technische Universität München:
“Wir versichern [...], dass alle Maßnahmen auf Basis einer gründlichen internen Prüfung und in Übereinstimmung mit den geltenden rechtlichen Vorgaben getroffen wurden.”
Der Augenzeuge der Vorfälle im Flur wurde aber bis heute nicht von der Klinik befragt.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Diese Fassungslosigkeit einfach, dass man überhaupt keine Hilfe bekommt. Und wie es möglich ist, dass nur, weil jemand Macht hat oder Professor ist oder einfach den höheren Rang hat, bis zum Ende quasi geschützt wird oder verteidigt wird und man eigentlich überhaupt keine Chance hat, irgendwie dagegen anzukämpfen.“
Von der “besten Mitarbeiterin” zur fristlosen Kündigung
Aber Katrin E. will um ihren Arbeitsplatz und ihren Ruf kämpfen. Die Anwältin Katrin Hegewald unterstützt sie – worauf basiert die fristlose Kündigung?
Katrin Hegewald, Fachanwältin für Arbeitsrecht:
„Ich habe natürlich auch geguckt: Gibt es eine Abmahnung? Gibt es eine Ermahnung? Das ist ja gerade bei so einem großen Betrieb üblicherweise in der Personalakte abgelegt. Habe ich bislang heute noch nicht bekommen. Und demzufolge habe ich natürlich gefragt, ob sich meine Mandantin irgendetwas erklären kann? Und da sagte sie, kann sie sich überhaupt nicht erklären, weil noch im Dezember hat ihr Chef sie gegenüber Dritten als sein `bestes Pferd im Stall` bezeichnet.“
Zeugen bestätigen tatsächlich, dass der Chefarzt Katrin E. als seine beste Mitarbeiterin bezeichnet hat. Und dennoch erhält sie die Kündigung. Diese liegt mir vor. Und darin steht, dass es um ihr “ungesundes Führungsverhalten” geht. Dass Mitarbeiter drohen, die Klinik zu verlassen, sollte Katrin E. je wieder zurück an ihren Arbeitsplatz kehren.
Prof. Katja Nebe, Leiterin Lehrstuhl für Arbeitsrecht, Universität Halle:
„Selbst, wenn das so wäre, müsste man sagen, dann hat doch die Klinikleitung die ganze Zeit ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Und das jetzt auch nochmal in die Kündigung reinzuschreiben als Grund, sie zu entlassen - das hat System und ich würde sagen, da kann man wirklich von Mobbing sprechen.“
Ein schwerer Vorwurf. Die Klinikleitung aber steht hinter dem Chefarzt. Anders als in Friedrichshafen weigern sich Katrin E.’s Kollegen jedoch, gemeinsam schriftlich Partei für ihn zu ergreifen, wie mir ein Insider erzählt.
Katrin E. und Elke Küssner im erbitterten Konflikt mit ihren Chefärzten - Sind sie Opfer von Machtmissbrauch? Und trifft so etwas oft gerade Frauen?
Ferda Ataman ist die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes. Ihre Behörde bietet nicht nur Beratung, sie forscht auch zu Diskriminierung am Arbeitsplatz. Gerade der Gesundheitsbereich sticht hier heraus.
Ferda Ataman, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes:
„Es braucht Hierarchien, um Verantwortung zu verteilen. Das ist erstmal nachvollziehbar, was aber nicht gut ist und manchmal auch zu einem toxischen Arbeitsklima führen kann, ist, wenn es ein Machtgefälle gibt, also wenn eine Person nahezu gottgleich das Sagen hat und andere darum fürchten müssen, zum Beispiel ihren Job zu verlieren.“
Ärztinnen erleben mehrheitlich Diskriminierung
Was sagen Zahlen? Gibt es Studien, die etwas zum Thema Machtmissbrauch erzählen? Werden Frauen im Gesundheitsbereich systematisch diskriminiert?
Antworten auf diese Fragen finde ich an der Uni Göttingen. Marie Ritter und Margarete Boos haben sich in einer Studie mit geschlechtsbezogener Diskriminierung an Unikliniken befasst. Mehrere hundert Ärztinnen und Medizinstudentinnen haben teilgenommen.
Marie Ritter, wissenschaftliche Mitarbeiterin, TU Braunschweig:
„Wir haben gefragt: Haben Sie in ihrer beruflichen Laufbahn oder in ihrem Studium schon Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund Ihres Geschlechts gemacht? Und auf diese offene Frage kamen eben diese Anzahl von Antworten. Und das hat uns auch wirklich sehr betroffen gemacht.“
Von den befragten Ärztinnen gaben 76 % an, im Laufe ihres Berufslebens geschlechtsbezogene Diskriminierung erlebt zu haben. Die Erfahrungen, die die Medizinerinnen gemacht haben, sind drastisch:
Zitate aus dem Arbeitsalltag von Teilnehmerinnen aus der Studie:
„Bei der Genehmigung einer schwer zu erlangenden Weiterbildung forderte mein Chef mich auf, wie ein Hund Sitz zu machen“
„Häufig Inadäquate Anrede wie Mäuschen oder Blondi. “
„Inadäquate Kritik durch Vorgesetzten: nicht so viele Schuhe kaufen, sondern lieber mal vernünftige Arbeit machen“
Vor allem das Thema Familiengründung scheint Frauen zur Zielscheibe zu machen.
“Wenn Sie erst mal Kinder haben, werden Sie hier nicht mehr zu gebrauchen sein”.
Strukturelles Problem in Kliniken
Knapp zehntausend Absolventen gab es 2023 im Fach Humanmedizin. Mehr als 60 Prozent davon sind Frauen – ein Trend, der stetig wächst. Doch ganz nach oben, in die Chefarztetage, schafft es nur ein Bruchteil. Gerade mal zehn Prozent der Chefarztposten sind mit Frauen besetzt. Wie kann das sein?
Ferda Ataman, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes:
„Es gibt ein strukturelles Problem. Dann heißt das, viele werden diskriminiert. Und bisher ist es so, dass immer gesagt wird, na ja, die Besten kommen halt durch. Und solche Statistiken zeigen, dass es eben nicht so ist. Es kann nicht sein, dass so viele Frauen - so viele - nicht gut genug sind, um Chefärztin zu werden.“
Sie wollte das nicht mehr hinnehmen - Dr. Natalie Urwyler aus der Schweiz hat dafür viel riskiert.
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
„Frauen sind nicht nur nicht in Führungspositionen, weil sie nicht möchten, sondern weil man sie einfach nicht lässt. Das ist eine Umgebung mit Göttern in Weiß, und die Göttinnen in Weiß, die gibt es eben nicht.“
Ich treffe Natalie Urwyler in einer Klinik im Süden der Schweiz. Die Anästhesistin hatte eigentlich eine große Karriere vor sich – sie hat sich habilitiert, an einer amerikanischen Elite-Uni studiert, wollte Chefärztin werden. Doch stattdessen sollte sie alles verlieren – elf Jahre ist das jetzt her. Als Natalie Urwyler ein Kind erwartet.
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
„Ich habe dann die Schwangerschaft verloren, ich habe unter dem Abort weitergearbeitet und habe meine Nachtdienstwoche abgeschlossen. Habe das dann mit meinem Chef besprochen, und habe gesagt: wir müssen Lösungen finden für die Zukunft, weil ich war nicht die einzige. Wir waren ungefähr zehn, die so etwas erlebt hatten.”
Ihr Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen von Schwangeren sei bei ihrem Chef aber nicht gut angekommen.
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin::
„Als ich dann eben wieder schwanger war, wurde ich gemobbt, meine Projekte wurden blockiert, und das ganze hat dann in meiner Kündigung geendet.“
Nadia Kailouli, Moderatorin REPORT MAINZ:
„Wie haben Sie dann reagiert?“
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
„Ich war am Boden zerstört, hatte aber da mein Kleinkind. Und ich habe aber dann angefangen, mich in anderen Spitäler zu bewerben und habe nie Antwort gekriegt auf ein Bewerbungsgespräch. Und der Zufall wollte es dann, dass ich über eine Temporär-Beschäftigung in ein Spital kam, wo ich den Chef kannte und wo ich mich beworben hatte. Und ich habe ihn dann gefragt, warum er die Bewerbung nicht beantwortet habe. Und er hat gesagt, dass mein früherer Arbeitgeber ihn angerufen habe und ihm gesagt habe, ich sei eine sehr schwierige Person, und er solle mich unter keinen Umständen anstellen. Und das war für mich ein bisschen das Ende der Welt. Und da habe ich dann die Entscheidung gefällt: jetzt reicht's. Jetzt seid ihr zu weit gegangen. Jetzt werde ich mich wehren.“
Karriereknick durch Schwangerschaft
Natalie Urwyler wird nicht nur gekündigt, auch ihr Ruf als Ärztin steht auf dem Spiel.
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
“Ich hatte natürlich Angst, dass ich nie mehr arbeiten kann. Und ich habe dann auch wieder als Assistenzärztin angefangen. Also ganz vorne, so wie ab Staatsexamen. Mit 40 und einer Habilitation in der Hosentasche.“
Das Berner Inselspital, ihr ehemaliger Arbeitgeber, erkennt bis heute kein Fehlverhalten des Chefarztes:
Inselspital, Universitätsspital Bern:
“Im Kern gab es einen persönlichen Konflikt mit ihrem damaligen Vorgesetzten, der nicht mehr gelöst werden konnte [...]. Die Kündigung stand mit dem Geschlecht von Frau Urwyler in keinem Zusammenhang.”
Um das Gegenteil zu beweisen, kämpft Natalie Urwyler seit zehn Jahren vor Gericht.
Dr. Natalie Urwyler, Anästhesistin:
„Ende 2014 habe ich geklagt. Die erste Frage war: War die Kündigung missbräuchlich? Ja oder Nein? Das habe ich 2018 gewonnen. Das ist rechtsgültig. Das war eine diskriminierende Rachekündigung. Und die zweite Frage: ich habe gesagt, ich bin auch im Lohn diskriminiert worden, weil ich nicht gemäß meiner Leistung und meiner Fachkompetenz befördert worden bin, wie ein Mann. Diesen Teil habe ich anfangs dieses Jahres gewonnen. Und jetzt geht es um die Frage, wieviel kostet das?“
Rechtsanwalt Rolf Steinegger hat errechnet: was hätte Natalie Urwyler verdient, wäre sie ein Mann? Er kommt auf einen Lohnunterschied von mehreren Millionen Euro und hat die Klinik auf Schadenersatz verklagt, wegen sogenannter “Beförderungsdiskriminierung”.
Prof. Dr. Steinegger, Rechtsanwalt:
„Das ist ein einmaliges Urteil,das wir im Fall Urwyler erzielen konnten. Ein Durchbruch. So etwas gab es noch gar nicht in der Schweiz.“
Ist so etwas auch in Deutschland denkbar?
Prof. Katja Nebe, Leiterin Lehrstuhl für Arbeitsrecht, Universität Halle:
„Ja, also durchaus. Das, was ihr passiert ist, der Ärztin in der Schweiz, ist eine klare Diskriminierung und wenn so eine Frau jetzt auf die Differenz der Entgeltunterschiede als Schadenersatz klagen würde, müsste sie eigentlich Erfolg haben.“
Doch ob Deutschland oder Schweiz: im Kampf gegen Diskriminierung stehen Frauen wie Natalie Urwyler allein. Rund eine halbe Million Euro hat sie der Rechtstreit bisher gekostet. Daher schweigen viele Frauen lieber.
Katrin E., Elke Küssner, Natalie Urwyler – sie alle haben sich gewehrt, trotz starker Widerstände. In Friedrichshafen hatte das auch Konsequenzen.
Zusammenarbeit mit Chefarzt wird “nicht fortgesetzt”
Denn Elke Küssners Suizid hat die Klinik zu internen Ermittlungen veranlasst. Die ergeben, dass Elke Küssners Vorwürfe in relevanten Punkten berechtigt waren.
Andreas Brand, Aufsichtsratsvorsitzender Klinikum Friedrichshafen, 17. Juli 2024:
„Der Aufsichtsrat hat in sorgfältiger Abwägung beschlossen, dass wir die Zusammenarbeit mit einem Chefarzt nicht fortsetzen werden.“
Ich treffe Bettina Oertel wieder. In einem Wald in der Rhön, den sie zusammen mit ihrer verstorbenen Schwester Elke oft besucht hat.
Nadia Kailouli, Moderatorin REPORT MAINZ:
„Wie ist es für Sie zu wissen, die Klinik ist in der Aufarbeitung?“
Bettina Oertel, Schwester von Dr. Elke Küßner:
„Einerseits ist das ein gutes Gefühl gewesen, weil ich weiß, dass das im Interesse der Patienten ist, und das wollte meine Schwester. Auf der anderen Seite ist es sehr traurig für mich oder auch aufwühlend, dass das erst jetzt passiert, dass man meiner Schwester zu Lebzeiten kein Gehör geschenkt hat.“
Knapp ein Jahr ist es her, dass ihre Zwillingsschwester ihr Leben beendet hat, wohl aus Verzweiflung über ihre Kündigung. Die soll aber laut der internen Untersuchung rechtmäßig gewesen sein: Elke Küssner habe in einem Fall die Behandlung eines Patienten zu früh abgebrochen, mit tödlichem Ausgang.
Widerlegt werden kann das nicht – die Unterlagen sind nicht öffentlich. Der Vorwurf haftet jetzt an ihr. Bettina Oertel ist es wichtig, dass ihre Schwester anders in Erinnerung bleiben wird und dass ihr eigentliches Erbe nicht vergessen ist.
Bettina Oertel, Schwester von Dr. Elke Küßner:
„Wenn, indem ich die Geschichte meiner Schwester zu Ende erzähle, Patientenschicksale, wie die, die meine Schwester angezeigt hat, für die Zukunft vermieden werden, weil Ärzte aufstehen und sagen: Wir machen da nicht mit.
Und wenn gleichzeitig Schicksale von Ärzten, Pflegern, Mitarbeitern in Krankenhäusern vermieden werden, dann ist das das Ziel, was ich damit erreichen möchte. Für meine Schwester.“
Elke Küssner selbst hatte wohl am Ende keine Kraft mehr zu kämpfen. Natalie Urwyler hält sein zehn Jahren durch – und könnte bald am Ziel sein. Die große Karriere hat sie dennoch verloren. Katrin E. steht noch am Anfang – der Ausgang, ungewiss.
Drei Ärztinnen, die sich gegen drei scheinbar übermächtige Chefärzte zur Wehr setzten.
Professorin Katja Nebe, Leiterin Lehrstuhl für Arbeitsrecht, Universität Halle:
„Wenn man sich alle drei Fälle anschaut, dann wird jeweils die Person, die ein Recht eingefordert hat oder eine Rechtsverletzung reklamiert hat – und damit ja eigentlich Opfer ist - die wird sozusagen in der sofortigen Reaktion zum Täter stilisiert. Das Dilemma in allen drei Fällen ist die Hierarchie. Und deshalb ist es dann immer der einfachste Reflex, sich auf die Seite des Mächtigeren zu stellen. Dass das nicht die beste Lösung, oder dass das keine guten Lösungen sind, finde ich, haben alle drei Fälle zum Teil auf dramatische Weise gezeigt.“
In München untersucht jetzt die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe gegen Katrin E.‘s Chefarzt. Aber auch Katrin E. ist mittlerweile angezeigt worden. Ihr Chefarzt bezichtigt sie der Verleumdung. Bis alles aufgeklärt ist kann es noch sehr lange dauern. Ein Kraftakt für die Ärztin, allein gegen Klinikum und Chefarzt.
Katrin E., Fachärztin für Innere Medizin:
„Ich bin natürlich schon im Sport gewöhnt, dass man auch mal weiter macht, wenn es mal nicht so läuft. Ich mache Ausdauersport, Triathlon, Ironman. Ich denke, die Ausdauer habe ich schon. Ich wusste von vornherein, dass das ein langer Weg wird und kein leichter Weg. Trotz allem habe ich mich entschieden, diesen Weg zu gehen.“
Stand: 18.12.2024 14:31 Uhr