Keine Notfallpraxen – Schlechte Versorgung auf dem Land
„Das ist schon ein Kahlschlag im Gesundheitswesen”, sagt Martin Löffler, Bürgermeister in Müllheim im Markgräferland. Denn in seiner Stadt soll im kommenden Jahr die Notfallpraxis schließen. So, wie an 17 weiteren Standorten in Baden-Württemberg - aber auch in Rheinland- Pfalz und im Saarland.
Viele Bürger müssten jetzt rund eine halbe Stunde oder mehr mit dem Auto fahren, wenn sie abends oder am Wochenende einen Hausarzt brauchen. Sie haben das Gefühl, dass die Versorgung in ländlichen Regionen mehr und mehr ausgedünnt wird.
Text des Beitrags:
Brackenheim in Baden- Württemberg. Die Bürger hier sind aufgebracht. Denn in der Kleinstadt soll im nächsten Jahr die Notfallpraxis schließen.
Joachim Esenwein:
„Ich habe einen Ärger, dass man uns nicht wahrnimmt und dass man die Menschen nicht wahrnimmt.“
Friedrich Sigmund:
„Es wird alles ins Zentrum verschoben, und hier auf dem Land werden die Menschen total vergessen.“
Die Bürger haben Sorge, dass sie künftig nicht mehr gut genug versorgt würden. Sie sammeln deshalb Unterschriften gegen die Schließung. Denn vor wenigen Jahren hat in Brackenheim schon das örtliche Krankenhaus dicht gemacht. Jetzt soll auch noch die Notfallpraxis schließen. Die Folge: rund eine halbe Stunde mit dem Auto, oder gut eine Stunde mit Bus und Bahn fahren, wenn sie abends oder am Wochenende einen Arzt benötigen.
Friedrich Sigmund:
„Ja, wenn sie ein Auto haben, geht es noch. Aber ich habe allein in meiner Nachbarschaft vier, fünf Haushalte. Die haben gar kein Auto. Was machen die?“
Annette Schuh:
„Ich halte es absolut für nicht zumutbar, weil ich einfach aus eigener Erfahrung schon mitbekommen habe, was es bedeutet, wenn der Patient auf dem Beifahrersitz sitzt und leidet.“
Gemeinderat Joachim Esenwein hatte vor wenigen Wochen eine Demo organisiert - Bürger aus ganz Baden-Württemberg nahmen teil. Denn nicht nur in Brackenheim soll die Praxis schließen, sondern viele weitere im ganzen Land, weil es zu wenige Ärzte gebe. Über 1000 Arztsitze seien unbesetzt.
Demonstration:
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Notfallpraxis klaut.”
In Notfallpraxen oder Bereitschaftspraxen sollen Bürger - die keine lebensbedrohlichen Notfälle sind - auch außerhalb der Sprechzeiten ärztlich versorgt werden können.
Längere Fahrtzeiten stellen eine Hürde dar
Welche Bedeutung sie für manche haben können, berichtet uns Familie Knittweis. In Ingelheim bei Mainz wurde die Notfallpraxis schon vor knapp einem Jahr geschlossen. Dabei wäre sie sehr wichtig gewesen, glaubt Andrea Knittweis. Für Ihren Vater. Er bekam am Wochenende plötzlich Schmerzen in der Brust, sah sich aber nicht als Notfall. Sein Herz hörte Sonntagabend auf zu schlagen.
Andrea Knittweis:
„Er hat ja am Wochenende gemerkt, dass es ihm nicht gut geht und hatte dann auch beschlossen, direkt am Montag zum Hausarzt zu gehen. Und in die Bereitschaftspraxis wäre er mit Sicherheit gegangen, um mal checken zu lassen, was denn nicht stimmt. Und dann hat er halt zu lange gewartet.”
Die Ingelheimer Praxis sei immer gut besucht gewesen, erzählt Hausärztin Judith Engel, sie habe vielen Patienten hier geholfen. Heute ist nichts mehr davon übrig: Kahle Wände, leere Räume - es ist das erste Mal, dass sie seit der Schließung wieder in der Notfallpraxis steht.
Dr. Judith Engel, Hausärztin:
„Das Behandlungszimmer, wo wir immer dringesessen haben.“ (Seufzt)
Dass die Praxis schließen musste, macht sie noch immer fassungslos.
Dr. Judith Engel, Hausärztin:
„Was ich von der Schließung halte? Überhaupt nichts! Man schließt ja auch nicht die Feuerwehr und schafft sie ab. Also Bereitschaftsdienst ist Daseinsfürsorge.“
Kassenärztliche Vereinigung entscheidet selbstständig und allein
Lange habe sie gekämpft, um die Praxis zu retten - ein Finanzierungskonzept vorgeschlagen und Unterschriften von Bürgern gesammelt, erzählt sie. Doch vergebens, die Praxis wurde dennoch geschlossen. Zum Nachteil der Patienten, sagt sie.
Dabei sind niedergelassene Ärzte verpflichtet, am Notfalldienst teilzunehmen. So steht es in der Berufsordnung. Die Versorgung außerhalb der Sprechstundenzeiten sicherzustellen ist Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder – kurz KV. Doch wie sie diesen Auftrag umsetzen, entscheiden sie selbstständig und allein.
Dr. Judith Engel, Hausärztin:
„Die KV hat da absolute Macht. Die hat... Es gibt kein Korrektiv. Das ist eine fachliche Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung. Die können machen, was sie wollen.“
Für den Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung in Rheinland-Pfalz ist die Schließung der Praxis legitim. Denn insgesamt gebe es im Bundesland zu wenige Ärzte, um diese Dienste zu übernehmen.
Dr. Andreas Bartels, stellvertretender Vorsitzender KV Rheinland-Pfalz:
„Die Belastung der Ärzte ist so hoch, dass wir versuchen, niemand zwangszuverpflichten. Niemand muss einen Dienst machen, der den Dienst nicht machen möchte.“
Ein Blick in die Zahlen zeigt, dass in Rheinland-Pfalz von rund 5000 niedergelassenen Ärzten nur rund 460 überhaupt diese Dienste übernehmen. Also nur rund 10 Prozent.
Dr. Andreas Bartels, stellvertretender Vorsitzender KV Rheinland-Pfalz:
„Was wollen Sie denn eigentlich von mir? Die arbeiten sich schon die Finger wund. Ja, die sind Tag ein Tag aus für ihre Patienten da. Und sie wollen sie jetzt zwangsweise noch verpflichten. Du musst aber jetzt noch Nachtdienst machen, Du musst noch am Wochenende arbeiten.“
Der gesetzliche Auftrag - offenbar ein dehnbarer Begriff.
Eine Umfrage von REPORT MAINZ zeigt:
Notfallpraxen werden in drei Bundesländern immer weiter ausgedünnt - in anderen bleibt die Zahl weitgehend gleich. In Rheinland- Pfalz wurden im vergangenen Jahr bereits 7 Praxen geschlossen. Im Saarland sollen zum Jahreswechsel knapp die Hälfte wegfallen. Und in Baden- Württemberg stehen 18 Praxen auf der Streichliste.
Rettungsdienste und Ambulanzen überlastet
Auch in Müllheim im Markgräferland, nahe der Schweizer Grenze soll die Notfallpraxis schließen. Für die Stadt und die Umgebung sei das ein großer Verlust, fast 80.000 Menschen wären betroffen, sagt Bürgermeister Martin Löffler. Die geplante Schließung bereite ihm Sorge.
Martin Löffler, SPD, Bürgermeister Müllheim im Markgräferland:
„Das ist schon ein Kahlschlag im Gesundheitswesen, keine Frage. Ich gehe schon davon aus, dass die Schließung der KV-Notfallpraxis auch wirklich Menschenleben gefährdet und Menschenleben kosten kann.“
Denn eine Fahrtzeit von rund 40 Minuten bis zur nächsten Notfallpraxis würden die wenigsten auf sich nehmen, glaubt er. Und stattdessen den Rettungsdienst rufen, der dann für echte Notfälle fehle.
Martin Löffler, SPD, Bürgermeister Müllheim im Markgräferland:
„Wir stellen in Frage, dass der Gesundheitsversorgungsauftrag, gerade was die Notfallversorgung betrifft, überhaupt noch erfüllt ist.“
Er plant gemeinsam mit anderen Bürgermeistern aus Baden- Württemberg gegen die KV zu klagen. Ihn ärgert auch, dass die KV die Schließung mit dem Mangel an Ärzten begründe. Und wolle, dass alle Praxen an eine Klinik angebunden seien. Doch in Müllheim gebe es genügend Ärzte und die Praxis sei bereits an einer Klinik.
Die KV schreibt:
Stellungnahme Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg:
„Die Dienstbelastung der künftig vorhandenen Ärzte muss landesweit möglichst gleich und gerecht sein und erfordert daher größere Dienstbezirke.”
Zum Erhalt der Praxis trotz Anbindung an eine Klinik schreibt sie, das sei…
Stellungnahme Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg:
„…eine zwingende Voraussetzung, aber eben nur eine unter mehreren.“
Welche weitreichenden Folgen die Entscheidungen der KV haben können, spüren sie hier schon jetzt. In einer Notaufnahme in der Nähe von Stuttgart.
Oberärztin Miriam Proch erzählt, wie stark ausgelastet ihre Station ohnehin schon sei. Doch seit etwa einem Jahr kämen noch mehr Patienten. 44 Prozent zusätzlich. Seit die Bereitschaftspraxis vor Ort die Öffnungszeiten um mehr als die Hälfte reduziert hat. Die Kollegen brennen mehr und mehr aus, sagt sie.
Dr. Miriam Proch, Oberärztin, Medius Klinik Kirchheim unter Teck:
„Also die arbeiten sich zum Teil dumm und dusselig und mir blutet das Herz, wenn ich sehe, wie junge, ambitionierte, wirklich kompetente Kollegen die Lust haben auf Medizin, die, die eine gute Versorgung machen wollen, einfach sagen ich, ich halte das nicht aus hier.“
Sie ist alarmiert - mit Blick auf die Zukunft, wenn die Notfallpraxis im nächsten Jahr komplett geschlossen werden soll.
Dr. Miriam Proch, Oberärztin, Medius Klinik Kirchheim unter Teck:
„Es geht uns sehr schlecht damit und es macht uns Angst und es macht uns Sorge das ist ein Problem, das sage ich jetzt noch mal ganz deutlich: Das wird nicht nur unsere Notaufnahme treffen, sondern viele Notaufnahmen. Da sind wir kein Einzelfall.“
Die KV schreibt hierzu: Zahlen seien immer schwer zu bewerten. Sie plane aber,
Stellungnahme Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg:
„in Absprache mit den Klinikbetreibern gemeinsame Maßnahmen zur Steuerung der Patientenströme [ zu ] unternehmen”.
Miriam Proch und ihr Team fühlen sich im Stich gelassen und wären gerne in die Entscheidungsfindung der KV miteinbezogen worden. Ähnlich drückt es Clemens Hoch, Gesundheitsminister in Rheinland-Pfalz aus. Die Schließung der Praxen aus seiner Sicht: nicht notwendig. Er wünscht sich mehr Transparenz und Mitspracherecht.
Clemens Hoch, SPD, Gesundheitsminister Rheinland-Pfalz:
„Wir würden selber sehr viel stärker in die Planung einschreiten. Ich würde mir aber auch wünschen, dass die KV organisiert, dass wir wirklich das ganze Land im Blick haben und gerade im ländlichen Raum auch die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.”
Das Bundesgesundheitsministerium hat das Problem erkannt und hat deshalb einen Gesetzesentwurf für eine Notfallreform vorleget. Darin sind auch „transparente und gesetzlich vorgegebene Standortkriterien” vorgesehen- sowie mehr Gestaltungsspielraum durch die Gesundheitsministerien der Länder. Doch ob und wann das Gesetz nach dem Bruch der Koalition kommt, ist derzeit unklar.
Für die Bürgerinnen und Bürger in ländlichen Regionen ist eine Reform dringend nötig. Denn sie fühlen sich jetzt schon vom Gesundheitssystem abgehängt.
Stand: 27.11.2024 16:24 Uhr