Messerangriffe - Wachsendes Problem oder Populismus?
Tödliche Messerangriffe sind häufig in den Schlagzeilen. Das sorgt für Verunsicherung. Ein Hinterbliebener berichtet über den Tod seiner Tochter durch einen Messerangriff. Auch einige Kliniken sind alarmiert. Hat die Zahl der Messerangriffe zugenommen?
Ann-Marie Kyrath. Die Zeit auf diesen Fotos steht still. Für ihren Vater Michael sind es heute Erinnerungen an den wichtigsten Menschen, den es in seinem Leben gab. Die 17-Jährige wurde im Januar vergangenen Jahres ermordet in einem Regionalzug in Brokstedt, als sie auf dem Weg zur Schule war. Ein staatenloser Palästinenser stach wahllos und unvermittelt auf sie ein. Auch ihr Freund Danny fiel dem Mann zum Opfer. Weitere Menschen wurden schwer verletzt.
Für Michael Kyrath ist der Tod seiner Tochter schwer zu begreifen.
Michael Kyrath, Betroffener:
„Wenn das eigene Kind vor einem in einem Sarg aufgebahrt liegt. Und man nimmt das letzte Mal seine eigenen Leben über die Hand, streichelt und ist alles eiskalt. Alleine die Kraft, jeden Morgen zu finden, aufzustehen. Es gibt ja keinen Sinn, denn das Wichtigste ist uns genommen worden.“
Kein Tag vergeht, an dem Kyrath nicht an seine Tochter denkt. Und es vergehe kaum ein Tag, an dem er nicht Post bekomme, von anderen Eltern. Beileidsbekundungen und Briefe anderer Betroffener, die ebenfalls ihre Kinder durch Messerangriffe verloren hätten.
Auch hier gedenken Menschen einem Toten durch eine Messerattacke. Dresden vor knapp zwei Wochen. Ein Islamist erstach vor vier Jahren einen Touristen, verletzte seinen Lebenspartner schwer. Der Opferbeauftragte des Bundes formuliert eine wichtige Frage:
Pascal Kober, FDP, Bundesopferbeauftragter:
„Muss man denn Angst haben, wenn man einen Spaziergang durch eine Stadt unternimmt? Wenn man wie in Solingen erst vor kurzem auf einem Stadtfest feiert?“
Wir fragen uns: hat die Zahl der Messerangriffe zugenommen?
Zunehmende Gewaltbereitschaft
Wir sind in Bonn an der Uniklinik, hier treffen wir Prof. Christof Burger. Er ist der Chef der Unfallchirurgie. Und beobachtet seit Jahren eine Zunahme an Schwerverletzten durch Messerangriffe in seiner Klinik, sagt er. Gerade wurde wieder ein Mann mit schweren Messerstichverletzungen eingeliefert, er wird jetzt operiert.
Prof. Christof Burger, Chef der Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Bonn:
„Das ist so, dass wir mittlerweile wöchentlich oder vielleicht alle zwei Wochen doch schwere Fälle von Verletzungen mit Messern haben und behandeln müssen. Notfallmäßig behandeln müssen, auch lebensgefährliche. Auch Todesfälle sind darunter. Das ist deutlich anders als noch vor Jahren.“
Unter den Messerverletzen gäbe es auch Opfer von häuslicher Gewalt und versuchte Suizide, die größte Gruppe seien aber tätliche Auseinandersetzungen, sagt er. Besonders erschreckend: Vor allem die Schwere der Fälle habe deutlich zugenommen - anhand der Verletzungen sei der Wille zu Töten klar erkennbar.
Prof. Christof Burger, Chef der Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Bonn:
„Na ja, es ist schon so, dass offensichtlich die Gewaltbereitschaft zugenommen hat in Deutschland. Wenn wirklich ein Tötungswille dabei ist, dann versucht normalerweise der Angreifer, und das sehen wir eben zunehmend, am Rumpf zu verletzen. Stichverletzungen am Rumpf weiß man natürlich, sind gefährlicher und vor allen Dingen am Hals, Brustkorb und Bauch führt es dann zu schwerwiegenden Verletzungen und Blutungen, die lebensgefährlich sind.“
Mehr Schwerverletze durch Messerstiche in Kliniken
Ein ähnliches Bild zeichnet das sogenannte Traumaregister, das REPORT MAINZ vorliegt. Rund 600 deutsche Kliniken nehmen daran teil. 2014 hatten rund 400 Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt wurden oder in einer Klinik verstorben sind, eine Stichverletzung, 2023 waren es rund 600. Der Anteil an Schwerverletzten nahm um rund 50 Prozent von 2 Prozent auf 3 Prozent zu.
Welche Waffen solche Verletzungen verursachen können, sehen wir im Polizeipräsidium in Bonn. In der Asservatenkammer werden Messer archiviert, die etwa bei Taschenkontrollen oder Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurden.
Michael Beyer, Pressesprecher der Polizei Bonn:
„Hier auch ein besonders Exemplar, ein Messer, wenn man das noch Messer nennen kann, aber auf jeden Fall eine Waffe, mit der man einen Menschen doch erheblich verletzen oder dann natürlich auch töten kann.“
Nur eine Auswahl der beschlagnahmten Messer - ein Eindruck was Einige offenbar mit sich führen.
Das ist Thema auch beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen - ein Blick in den aktuellen Lagebericht zeigt: Die Messerkriminalität hat zugenommen. Die Tatverdächtigen: dem Bericht zufolge vor allem Männer. 55 Prozent Deutsch, 45 Prozent Nicht-Deutsch. Innenminister Herbert Reul warnt vor pauschalen Schuldzuweisungen.
Mehr Kontrollen im öffentlichen Raum
Herbert Reul, CDU, Innenminister Nordrhein-Westfalen:
„Und ich glaube, wenn man ein Problem lösen will, muss man es benennen. Dann muss man sagen: Jawoll, die Messerattentäter, das ist ein großer Anteil von denjenigen, die als Migranten hier sind. Das heißt aber nicht, das birgt immer die Gefahr, dass alle sagen: Jetzt sind alle Migranten Messertäter. So ein Quatsch. Also erstens sind 45 Prozent nicht 100 Prozent. Und zweitens muss man auch verstehen, warum das so ist, um dann eine Lösung herbeizuführen.“
Reul hat deshalb einen Zehn-Punkte-Plan formuliert - will Präventionskonzepte in Flüchtlingsheimen, aber auch mehr Kontrollen und Waffenverbotszonen. Doch auch dieser Plan hat Schwächen.
Herbert Reul, CDU, Innenminister Nordrhein-Westfalen:
„Es gibt Terroristen, da passt das gar nicht, was ich vorschlage, da brauche ich keinen Zehn-Punkte-Plan. Die würden, wenn es kein Messer gäbe, einen Hammer nehmen oder ein Auto. Und es gibt psychisch kranke Menschen. Da spielt das auch keine Rolle. Also heißt, Taten mit Messern sind nicht eins zu eins zu vergleichen.“
Wie groß ist die Zahl der Messerkriminalität bundesweit? Wir werfen einen Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik.
2023 lag der Anteil der als „Messerangriff“ erfassten Taten der gefährlichen und schweren Körperverletzung bei 5,8 Prozent. Insgesamt damit bei rund 9000 Fällen.
Was sagen diese Zahlen aus? Eine Frage, die auch Thema ist auf der Fachtagung der kriminologischen Gesellschaft in Tübingen. Hier treffen wir Prof. Dirk Baier, er warnt vor Alarmismus. Die Gewaltkriminalität insgesamt habe zugenommen. Messer hätten darin einen geringen Anteil.
Prof. Dirk Baier, Institutsleiter Kriminalprävention, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften:
„Wir sprechen über ein Messerproblem wir sprechen über Messerkriminalität. Die Zahlen geben, ist aus meiner Sicht so nicht her. Also niemand muss zurzeit fürchten, wenn er vor die Tür geht, wenn er sich im öffentlichen Raum aufhält, dass er auch Messerkriminalität erleben wird. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr gering.“
Sein nüchterner Blick auf die Zahlen. Dennoch nimmt Baier das Phänomen ernst -auch im Hinblick auf Jugendliche. Denn dort seien Messer im Trend.
Bedrohungen mit Messern auch an Schulen
Die Waldschule im niedersächsischen Hatten - Direktorin Silke Müller zeigt uns verbotene Gegenstände, die sie Schülern weggenommen hat. Darunter auch einige Messer.
Silke Müller, Schulleiterin Waldschule Hatten:
„Das sind dann klar diese Klappmesser oder wie es dann eben heißt, ähm, es sind Teppichmesser, es sind Taschenmesser. Bei diesem Messer, diesem Teppichmesser, ist die Geschichte geendet bei: Ich habe es vergessen rauszupacken. Und auf die Frage ‚Warum hast du es denn überhaupt in die Schultasche gepackt?‘ gab es ein Schulterzucken. ‚Ja, weiß ich eigentlich auch nicht.‘ Und dann nehme ich an, das ist ein Geltungsgefühl. Das ist so ein bisschen Angeberei im Sinne von ‚Ich pack es mal einfach ein, damit ich cool bin‘.“
Das große Problem, Messer würden insbesondere in sozialen Netzwerken einen Hype erfahren, erzählt sie. Sie zeigt uns TikTok Videos, in denen Kinder und Jugendliche sich gewaltverherrlichend inszenieren.
Wir kommen mit Schülerinnen ins Gespräch, die uns von ihren Erfahrungen mit Messern berichten. Etwa von einem Angriff auf einer Schultoilette oder einem Streit mit einem Mädchen an einer Grundschule:
Vina, Schülerin:
„Und dann hat sie mir geschrieben und hat ein Messer-Emoji geschickt. Und dann hat sie auch so gesagt Du wirst morgen sehen. Und danach bin ich nicht zur Schule gegangen, weil ich Sorge hatte, ich hätte Angst, wenn es auch wirklich was passiert oder wenn ich nicht mehr am Leben bin.“
Lina, Schülerin:
„Auf einer Schule in der Region wurde ein Junge auf der Schultoilette im Nacken gestochen. Ja, das beängstigt einen ja total, weil das ist einfach eine Situation und das ist ja aus dem Nichts passiert.“
Nehmen mehr Schüler Messer mit? Wir sprechen mit dem Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen, Prof. Bliesener. Seit Jahren untersucht er, wie häufig 9-Klässler Messer mit sich führen. Eine Zunahme sieht er nicht, aber eine Veränderung im Motiv.
Prof. Thomas Bliesener, Direktor Kriminologisches Forschungsinstituts Niedersachsen e.V.:
„Der Teil derjenigen, die gesagt haben: ‚Ich fühle mich mit einem Messer sicherer“, oder „ich möchte mir mit dem Messer Respekt verschaffen‘. Dieser Anteil ist gestiegen, und das ist nicht ganz unproblematisch, weil damit sozusagen die mentale Bereitschaft, also die Verfügbarkeit dann in einem eventuellen Konflikt zum Messer zu greifen, dieses Messer als Waffe einzusetzen, näher liegt.“
Wir fragen auch das Bundesinnenministerium nach der Messerkriminalität. Das schreibt uns:
„Für Deutschland liegen bislang keine validen statistischen Informationen zu Gewalt-/Straftaten mit Messern vor.”
Da Gewaltstraftaten im öffentlichen Raum aber das Sicherheitsgefühl der Bürger beeinträchtigen könnten, sieht das Ministerium dringenden Handlungsbedarf.
Noch diese Woche soll ein Sicherheitspaket verabschiedet werden. Zentral sind darin der Kampf gegen Islamismus und irreguläre Migration, sowie die Ausweitung von Messerverbotszonen.
Für Prof. Baier greifen Verbote zu kurz
Prof. Dirk Baier, Institutsleiter Kriminalprävention, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften:
„Das Verbieten erledigt die Arbeit nicht. Nämlich, dass es weiterhin Menschen gibt, insbesondere junge Männer, die es aus irgendeinem Grund wichtig und cool finden, Messer mit sich zu führen.“
Er fordert mehr psychosoziale Beratung und Gewaltprävention - auch an Schulen.
Wir fassen zusammen: die verfügbaren Zahlen sind schwer zu vergleichen. Klar ist jedoch: Messerangriffe spielen bundesweit zunehmend eine Rolle. Wichtig deshalb: Eine Auseinandersetzung mit Ursachen und Lösungsansätzen. Da können Verbote nur ein Anfang sein.
Stand: 13.11.2024 09:23 Uhr