Belästigte Ärztinnen - Sexualisierte Gewalt in Kliniken
Von Sexueller Belästigung betroffene Ärztinnen schweigen meist, denn die Chef- und Oberärzte haben Macht über Karriere und Weiterbildung.
Text des Beitrags:
Dr. Fiona F. macht sich bereit für ihren nächsten Hausbesuch. Ihren richtigen Namen möchte die Ärztin nicht nennen. Denn wenn sie heute ihre Tasche packt, fährt sie nicht, wie früher, zur Arbeit in ein Klinikum. Die Familie steht hinter ihr, als sie damals die schwere Entscheidung trifft, die Neurochirurgie aufzugeben.
Ihre Begründung: allgegenwärtige Übergriffe und sexuelle Belästigungen. Erstmals sei sie als junge Doktorandin bei einem Kongress damit konfrontiert gewesen, erzählt sie.

Dr. Fiona F., Neurochirurgin:
„Als ich den ersten Vortrag geübt habe vor versammelter Mannschaft, kamen dann Kommentare über mein Aussehen, warum ich einen Hosenanzug anhabe und keinen Rock. Und der Chefarzt hat nur gesagt, mein Vortrag sei sexy. Das waren letztlich aber nur Kommentare und ich dachte, dass das vielleicht eine Ausnahme war.
Die Amerikanerin durchläuft mehrere Kliniken, kämpft sich in der männlich dominierten Neurochirurgie durch. Sie merkt schnell: eine Ausnahme war das nicht.
Dr. Fiona F., Neurochirurgin:
„Dass es gemischte Büros gibt zum Umziehen hat meine männlichen Kollegen nie daran gehindert, Pornos zu gucken auf dem Handy. Und ich bin irgendwann in den Kopierraum gegangen, weil es mir ein bisschen unangenehm war, als ein Mann da saß und Pornos geguckt hat, und ich musste mich bis zur Unterwäsche umziehen.“
Pornos in der Gemeinschaftsumkleide im Krankenhaus
Fiona F. arbeitet weiter an ihrer Karriere. Doch mit Mitte 30 fehlen ihr noch einige OPs für die Facharztprüfung. Die OP-Zuteilung obliegt den Vorgesetzten.
Dr. Fiona F., Neurochirurgin:
„Irgendwann habe ich dann dem Oberarzt gesagt: ich brauche unbedingt mehr OPs für die Wirbelsäule. Ich komme irgendwie nicht weiter, ich werde sonst bis 40 Assistenzärztin sein. Dann meinte er, wenn ich mich ausziehe, dann bekomme ich ein paar OPs.“
Kollegen, die in der Gemeinschaftsumkleide Pornofilme schauen, ein Oberarzt, der eine Assistenzärztin auffordert, nackt zu operieren.
Mit diesen Vorwürfen konfrontiert, antwortet die Klinik:
„Die Vorwürfe sind uns nicht bekannt. Wir nehmen Ihre Hinweise aber ernst und gehen diesen nach [...]. Der Vorstand [...] lehnt sexuelle Belästigung und Gewalt ausdrücklich ab.“
Fiona F. wendet sich nach dem Vorfall an die Frauenbeauftragte. Doch die habe ihr geraten, besser die Klinik zu wechseln als den Fall zu melden. Es könne sonst ihrer Karriere schaden.
Abhängigkeit in der Facharzt-Ausbildung führt zu “hoher Erpressbarkeit” und “Machtmissbrauch”
Der Psychologe Prof. Daniel Leising forscht zum Thema Machtmissbrauch in der Wissenschaft und weiß: Ärztinnen in Weiterbildung sind leichte Opfer, denn sie sind abhängig von ihren Vorgesetzten.

Prof. Daniel Leising, Psychologe, TU Dresden:
„Davon hängt die eigene Karriere ab. Davon hängt ab, wann ich Fachärztin werde, ob ich überhaupt Fachärztin werde. Also diese sehr große Erpressbarkeit, diese unnötig große Erpressbarkeit ist einfach ein Einfallstor für jede Art von Machtmissbrauch, inklusive sexuellen Übergriffen.“
Wie verbreitet ist diese Form des Machtmissbrauchs in Deutschlands Krankenhäusern? REPORT MAINZ führt zahlreiche Gespräche mit Klinik-Ärztinnen aus dem ganzen Bundesgebiet. Ihre Schilderungen vom Klinik-Alltag als Frau:
Nachgesprochene Schilderung Ärztin 1:
„Bei einer OP hat das Blut kurz gespritzt. Dann meinte der eine Oberarzt zu mir: "mit ins Gesicht spritzen mag ich ja gerne."
Nachgesprochene Schilderung Ärztin 2:
„Wir hatten in der Urologie einen Eingriff bei einem Patienten gemacht, der Probleme mit dem Ejakulieren hatte. Nach der OP sagt der Chefarzt zu mir: „Meine Frau sagt immer, meins schmeckt nach Kuchenteig“. Da war ich noch Studentin“
Nachgesprochene Schilderung Ärztin 3:
„Bei einer OP war ich zuständig für den Sauger, um das Operationsfeld vom Blut frei zu halten. Da sagt der Oberarzt zu mir: "ich hoffe für Ihren Partner, dass sie unterm Tisch besser saugen als über dem Tisch". Und der war zu diesem Zeitpunkt auch Frauenbeauftragter der Klinik.“
Eine der Ärztinnen erklärt sich bereit, ihre Erlebnisse anonym vor der Kamera zu schildern. Auch Sie erlebt die ersten Grenzüberschreitungen durch einen Professor im Medizinstudium:
Anonyme Ärztin:
„Das Mikroskop war direkt vor mir auf dem Tisch und er saß auf einem Stuhl neben mir. Und jedes Mal, wenn er sich dann über mich gebeugt hat, weil vor mir stand ja das Mikroskop, war es auch so, dass er mehrmals dann an meiner Brust entlang gestreift ist. Ich dachte aber, okay, das war bestimmt keine Absicht. Es gab dann eine zweite Stunde und da war es dann noch extremer.
Die Chirurgin durchläuft mehrere Kliniken. Dort habe sie Herabwürdigungen erlebt, die Aufforderung zum Oralsex beim Nachtdienst und Kollegen, die sie immer wieder ungewollt berührten.
Anonyme Ärztin:
„Der Kollege hat dann einfach aus dem Nichts heraus angefangen, meine Schultern zu massieren, mit den Worten, ja, ich sei ja so verspannt. Und obwohl ich diese Abschüttelbewegungen gemacht habe, war das für ihn kein Hindernis.“
Meldesysteme in Kliniken versagen
Ihre Versuche, übergriffiges Verhalten zu melden, scheitern - in mehreren Kliniken.
Anonyme Ärztin:
„Was war die Konsequenz daraus, wenn ich es jetzt mal zusammenfasse? Ich soll mich nicht so haben, weil ich sehe doch gut aus. Ich soll den Mund halten, das gehört hier nicht her.“
Daniel Leising kennt die Mechanismen der Macht – seiner Einschätzung nach wollen Kliniken den öffentlichen Diskurs über Fehlverhalten unbedingt vermeiden.
Prof. Daniel Leising, Psychologe, TU Dresden:
„Die erste Strategie ist, immer zu leugnen, dass es ein Problem gibt. Wer möchte denn gerne in ein Krankenhaus gehen als Patientin oder als Patient, wo gestern in der Zeitung gestanden hat, dass da seit 10 oder 15 Jahren jemand sexuell übergriffig ist in einer leitenden Arztposition? Das Risiko des Reputationsverlustes ist ein großes.“
Deshalb kommen nur sehr wenige Übergriffe ans Licht. Wir fragen bei den Landesärztekammern, Staatsanwaltschaften und Justizministerien nach:
Wie viele Fälle sexueller Übergriffe von Chef- und Oberärzten auf Kolleginnen sind bekannt? Die Recherche ist ernüchternd: statistisch werden solche Daten nicht erfasst.
Dr. Susanne Johna ist Vizepräsidentin der Bundesärztekammer und Vorsitzende des Marburger Bundes. Das Problem ist ihr bekannt.

Dr. Susanne Johna, Vizepräsidentin Bundesärztekammer, Vorsitzende Marburger Bund:
„Also natürlich bekommen wir von unserem mittlerweile mehr als 140.000 Mitgliedern auch berichtet, dass sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz stattfinden, auch im Krankenhaus. Das ist natürlich wahrscheinlich an fast allen Arbeitsplätzen ein Thema, im Krankenhaus sicher noch einmal doppelt. Weil es zum einen natürlich sexuelle Belästigung durch Patienten gibt, zum anderen gibt es sie sicher auch im großen Team der Mitarbeiter. Also, das wissen wir, dass es das Phänomen gibt. Wie groß es wirklich ist, können wir numerisch nicht nennen.
75 % der Medizinstudierenden und 60% der Ärzt*innen betroffen
Die Uniklinik Greifswald aber wollte das Problem numerisch erfassen - Professorin Sylvia Stracke und Dr. Christine Lutze haben zu diesem Zweck eine Klinik-interne Befragung gemacht:

Professorin Sylvia Stracke, Stellv. Klinikleitung Uniklinik Greifswald, Gleichstellungsbeauftragte:
Bei den Medizinstudierenden war das sehr auffällig, dass 75 Prozent der Befragten angegeben hatten, sexualisierte Belästigung erfahren zu haben. Und hier war auch sehr erstaunlich, dass es sich bei den Ausübenden und Führungspersonen handelte.
Bei den Ärzten und Ärztinnen waren etwa 60 Prozent von sexualisierter Belästigung betroffen. Und auch hier waren Führungspersonen in 50 Prozent der Fälle die Ausübenden gewesen. Und das sind natürlich Dinge, die die Unternehmensführung stark interessieren und die abgestellt werden müssen.
Die Klinik zieht Konsequenzen, Mitarbeiter müssen gehen. Und Betroffene wissen jetzt, an wen sie sich wenden können, um Gehör zu finden.
Dr. Fiona F. arbeitete knapp 12 Jahre in verschiedensten Krankenhäusern. Das, was sie damals erlebt habe, ist auch für jeden, der Patient in einem Klinikum ist, erschreckend:
Dr. Fiona F., Neurochirurgin:
Wir haben manchmal an wachen Patienten operiert in Neurochirurgie. Das ist eine sehr angespannte Angelegenheit, weil sie festgeklemmt sind mit offenem Hirn. Das ist denen schon bewusst. Und dieser Oberarzt hat das ausgenutzt, wenn der Patient wach war, mich anzufassen Und er wusste, ich werde mich nicht wehren, weder verbal noch sonst, weil der Patient das mitbekommt.
Sie hat das System Klinik hinter sich gelassen. Statt in der Neurochirurgie arbeitet sie jetzt ganz nah am Patienten, als Palliativärztin. Eine Aufgabe, die sie erfüllt, sagt sie. Der tägliche Kampf gegen die Übermächtigen im Klinikum gehe ihr aber bis heute nach.
Dr. Fiona F., Neurochirurgin: Ach, ich werde so wütend. Ich fühlte mich so machtlos. Und das Verrückte ist, man fühlt sich im ersten Moment als Frau schuldig. Aber ich merke, mit Abstand, das war einfach so eine Kultur. Man hat alles erst mal hinzunehmen, man ist klein, man ist machtlos, man ist irgendwie nur eine Frau.