Kinder in Not - Überforderte Jugendhilfe
In vielen Jugendämtern herrscht Personalmangel und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leiden unter Überlastung. Das hat eine Umfrage des ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ bei den bundesweit knapp 600 Jugendämtern ergeben. Weit mehr als die Hälfte der Ämter hat geantwortet.
Rund 24 Prozent aller antwortenden Jugendämter, also fast jedes Vierte, räumte anonym ein, dass es 2023 deshalb zu einer Gefährdung von Kindern beziehungsweise Jugendlichen gekommen sei.
Ein weiteres Ergebnis der Umfrage: 327 Jugendämter, also 80 Prozent der Antwortenden, teilten REPORT MAINZ mit, dass Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Jugendamtes überlastet seien, zum Beispiel weil sie zu viele Fälle bearbeiten müssten oder der Krankenstand hoch sei. Nur rund 20 Prozent der Jugendämter sagen, sie hätten das Problem nicht.
Text des Beitrags:
Das Grab des kleinen Mete. Vor wenigen Tagen wäre er 8 Jahre alt geworden. Mete wurde im September vergangenen Jahres erstochen. Dringend tatverdächtig, sein eigener Vater. Er sitzt jetzt in der Psychiatrie.
Die Mutter und ihr neuer Lebensgefährte sind in tiefer Trauer. Erstmals spricht die Mutter vor der Kamera.
Gamze D., Mutter:
[weint] „So ein lustiges, lebensfrohe Kind. Er hat nicht nur mein Kind umgebracht. Er hat uns alle umgebracht.“
Hier lebte die Mutter mit ihren beiden Kindern, in Trennung von ihrem ehemaligen Mann. Im Juni vergangenen Jahres soll er mitten in der Nacht mit einem Roller gegen die Wohnungstür der Mutter geschlagen, und die Familie bedroht haben. Zeugen hätten ihn mit einem großen Messer gesehen. Die Polizei war Ort, meldete dem Jugendamt eine „erhebliche soziale Notlage.” Die Familie hatte seitdem Angst vor ihm. Die Mutter suchte Hilfe beim Jugendamt, schrieb mehrere Mails. Trotzdem lässt das Jugendamt zu, dass Mete den Vater später alleine trifft.
Frage:
Was für Gefühle hatte Mete gegenüber seinem Vater noch wenige Wochen zuvor?
Gamze D., Mutter:
„Angst. Dass er jemandem von uns was antut“
Gamze D., Mutter:
„Wenn das Jugendamt richtig gehandelt hätte, wäre Mete noch am Leben.“
Schwere Vorwürfe. Der Fall schlägt große Wellen in Bremen, war auch Thema in der Bürgerschaft. Die Sozialsenatorin Claudia Schilling (SPD), weist diesen Vorwurf zurück, verweist auf einen externen Bericht, der das Jugendamt vollumfänglich entlaste.
Auf Anfrage von REPORT MAINZ teilt uns der Senat mit: „Im Fall des Siebenjährigen” handele „es sich um einen tragischen Unglücksfall, den im Umfeld des Jungen niemand hat absehen können - weder das Jugendamt noch das private Umfeld des Kindes”. Der Fall sei „ein Beratungsfall in einer Trennungssituation”, „in dem die Unterstützung des Jugendamtes angeboten wird”.
Sandra Ahrens von der CDU beschäftigt sich seit Monaten mit dem Fall, hat viele auch nicht öffentliche Akten dazu ausgewertet. Und privat Strafanzeige „gegen alle beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes“ gestellt - unter anderem wegen fahrlässiger Tötung, die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Sandra Ahrens, CDU, Faktionssprecherin für Kinder und Familie
„Die Mutter hat Alarm geschlagen, die Kinder haben Ängste geäußert. Der Vater war psychisch auffällig. Das sind alles klare Indizien, die ganz deutlich sagen es braucht einen begleiteten Umgang.“
Aber schließlich durfte Mete seinen Vater doch alleine treffen.
In einer E-Mail an die Eltern, die REPORT MAINZ vorliegt, berichtet ein Jugendamtsmitarbeiter von einem persönlichen Gespräch mit Mete. Der Vater habe sich bei seinem Sohn entschuldigt - Mete hätte ihn wieder treffen wollen - „ohne dass eine andere Person dabei ist.”
6 Tage danach war Mete tot. Mutmaßlich erstochen vom Vater.
Ein tragischer Einzelfall?
Der Bremer Senat sagt: die Jugendhilfe sei „insgesamt von einem Mangel an Fachkräften” betroffen. Der Betreffende Mitarbeiter habe „auf Nachfrage keine Überlastungssituation empfunden.”
Sandra Ahrens hingegen kritisiert, dass schon seit mehreren Jahren Personalmangel und Überlastung in den Bremer Jugendämtern vorherrschten. Sie habe viele Belege dafür gesammelt.
Sandra Ahrens, CDU, Faktionssprecherin für Kinder und Familie
„Ich glaube, dass das staatliche Wächteramt in Bremen in absoluter Not und Schieflage ist. Die freien Träger und viele andere, die sich in diesem Bereich in Bremen auskennen, warten nur darauf, dass es zu einem nächsten Todesfall kommt.“
Jugendämter, die ihr Wächteramt nicht mehr ausüben können? Wie ist der Zustand in der Jugendhilfe bundesweit?
REPORT MAINZ hat alle knapp 600 Jugendämter befragt. Über die Hälfte haben geantwortet. Rund 80 Prozent der Antwortenden räumen ein, dass Jugendamtsmitarbeiter 2023 überlastet gewesen seien, zum Beispiel durch Personalmangel. Bei knapp einem Viertel der Antwortenden kam es nach ihren Antworten im vergangenen Jahr deshalb zu einer Gefährdung von Kindern und Jugendlichen.
Keine Hilfe in „absoluten Gefährdungslagen“
Professorin Kathinka Beckmann beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Kinderschutz. Zu den Zahlen der Umfrage hat sie eine klare Einschätzung.
Prof. Kathinka Beckmann, Fachgebiet Kinderschutz, Hochschule Koblenz
„Das heißt, dass wir hier Kinder in absoluten Gefährdungslagen haben, denen gerade nicht geholfen wird, die zuhause vergewaltigt werden, die zuhause in Kellern gefangen gehalten werden, die mit Gürteln geschlagen werden. Und wir haben hier also Fachkräfte, die das nicht sehen können, weil sie zum Beispiel gerade keine Hausbesuche durchführen.“
Mitarbeiter der Jugendhilfe warnen schon seit Monaten vor einem Kollaps der Jugendhilfe. Wie hier bei einer Demo in Berlin.
Arbeit „kaum zu schaffen“
Auch sie hat mit demonstriert. Wir nennen sie Klara, sie will nicht mit ihrem echten Namen genannt werden. Für Hausbesuche hat sie selten Zeit, sagt sie. Stattdessen: Viel unbearbeitete Post, unzählige E- Mails, und ständig klingelt das Telefon.
Klara (am Telefon)
„Am Montag, oh warten Sie mal, ich suche mal. Hier, ich hab Sie. Ja…“
Obwohl sie nur in Teilzeit arbeitet, betreut sie mehr als 50 Fälle - viel zu viele, sagt sie. Teilweise könne sie sich an Namen aus den Akten nicht mehr richtig erinnern.
Zudem fallen immer wieder viele Kollegen aus. Wird einer länger krank oder kündigt, muss sie sich mit dessen Fällen beschäftigen. Dabei sei die eigene Arbeit schon kaum zu schaffen.
Klara
„Die Sorge ist, dass man Familien aus dem Blick verliert und dann einfach Kinder und Jugendliche gefährdet sind.“
Manchmal sind Kinder akut gefährdet - und müssen sofort von zu Hause raus. Aber:
Klara
„Es gibt zu wenig Plätze. Wenn wir Krisenplätze suchen, dann telefonieren wir ganze Listen ab, dass das Kind an dem Tag noch einen Platz bekommt.“
Aber wo?
Der Kindernotdienst in Berlin, eine sogenannte Inobhutnahmestelle. Diese Bilder wurden uns zugespielt. Sie zeigen, wie traumatisierte Kinder reagieren können: Zerschlagene Fenster, demolierte Wände, im gesamten Flur.
Wir treffen Insider aus der Einrichtung. Sie erzählen uns: Statt der vorgesehen 1-3 Tage blieben manche Kinder viel länger - weil es kaum andere Plätze gäbe.
Anonym
„Diese Kinder sind manchmal bis zu neun Monaten hier, ohne dass sie in die Schule gehen, ohne dass sie irgendeine Perspektive haben. Und sie reagieren entsprechend verzweifelt.“
Die Insider berichten uns von Messerangriffen, Tritten, Bissen, sogar sexuellen Übergriffen von Kindern gegenüber Kindern.
Viele Mitarbeiter hätten gekündigt, weil sie nicht mehr garantieren könnten, dass den Kindern nichts passiert, erzählen sie uns. Der Berliner Senat bestätigt auf Nachfrage von REPORT MAINZ:
Senatsverwaltung Jugend und Familie, Berlin
„55 besondere Vorkommnisse…” aus dem Jahr 2023.
„Durch ständige Dienstplanänderungen aufgrund häufig sehr kurzfristiger Krankmeldungen (...) gehen Strukturen verloren, die sich auch auf das Verhalten der Kinder auswirken können.“
Die Jugendhilfe ist am Limit - wie dramatisch die Situation bundesweit ist, zeigt unsere Umfrage.
Übernachtungen im Jugendamt
Rund 24 Prozent der Antwortenden berichten, dass 2023 aufgrund fehlender Plätze in der Inobhutnahme Kinder in den Räumlichkeiten des Jugendamtes übernachten mussten, Kinder Privatpersonen anvertraut wurden, oder Jugendamtsmitarbeiter sogar selbst Kinder mit nach Hause nehmen mussten.
Prof. Kathinka Beckmann, Fachgebiet Kinderschutz, Hochschule Koblenz
„Das ist unhaltbar, es würde auch niemand von einem Arzt verlangen, den Frischoperierten jetzt mit nach Hause zu nehmen, weil kein Bett mehr im Krankenhaus frei ist.“
Das Bundesfamilienministerium nimmt zu den Ergebnissen der Umfrage konkret keine Stellung - lässt über einen Sprecher mitteilen, dass „die gegenwärtige Situation der Jugendämter” dem „Familienministerium sehr bewusst” sei. Die zentrale Herausforderung sei die „Fachkräftesicherung”. Es stehe dazu im „Kontakt mit den Ländern.”
Ob das wirklich ausreicht? Das System des Kinderschutzes ist am Kollabieren.
Dabei sind Familien wie die von Mete und seiner Mutter dringend auf Hilfe angewiesen.
Stand: 24.01.2024 14:30 Uhr