Straffällige ausreisepflichtige Flüchtlinge - Kommunen überfordert
Landrätin Bettina Dickes macht sich Sorgen. Ein abgelehnter Asylbewerber in ihrem Landkreis stelle ein potentielles Sicherheitsrisiko dar, auch weil die Befürchtung bestehe, dass er sich religiös radikalisiert habe. Doch sie könne nichts machen, denn nach Afghanistan könne momentan nicht abgeschoben werden.
Auch Landrat Tino Schomann kennt dieses Ohnmachtsgefühl. Er hatte versucht einen ausreisepflichtigen Intensivtäter schneller abzuschieben oder wenigstens in Haft zu nehmen. Doch rechtlich war das nicht möglich. Deshalb wünscht er sich, wie aktuell große Teile der CDU, mehr Möglichkeiten für Abschiebehaft bei Straftätern. Professor Hannes Schammann sieht das kritisch. Die Vorschläge seien nicht nur juristisch problematisch, sondern vor allem auch moralisch. Es gehe um Menschenrechte. Jemanden jahrelang in Haft zu nehmen, ohne dass dafür eine Straftat zugrunde liegt, sei rechtliche schwierig.
Text des Beitrags:
Ein mulmiges Gefühl ist schon dabei.
Sonntag vor zwei Wochen. Kurz vor der Kinderfastnacht in Windesheim. Eigentlich ein Höhepunkt im Jahr. Doch diesmal ist es irgendwie anders, vor allem für den Vereinsvorsitzenden. Wegen der vielen Diskussionen im Ort.

Sascha Ruby, Vorsitzender Förderverein Kinderhaus Pusteblume:
„Dass ein Flüchtling oder Asylbewerber hier untergebracht ist, der tatsächlich aggressiv ist, der schon auffällig war, wo wir vielleicht auch sagen müssen, ja, der hat doch schon Menschen angegriffen, angegangen.”
Viele Berichte über einen abgelehnten Asylbewerber
Seit Wochen ist das Thema in den Schlagzeilen, bundesweit. Mit Warnungen vor einem „aggressiven Afghanen”, der im Ort für Angst sorgen soll. Und nur rund 100 Meter entfernt vom Kinderkarneval wohnt. Sascha Ruby hat deshalb extra einen Sicherheitsdienst engagiert. Nicht so sehr aus Angst, sagt er, sondern für das Gefühl. In diesen Zeiten so wichtig wahrscheinlich wie lange nicht.
Die Taten von Aschaffenburg, Solingen. Verübt von eigentlich abgelehnten Asylbewerbern. Wie es auch der Mann in Windesheim ist. Seit Herbst ist er ausreisepflichtig. Er wohnt hier bei der Windesheimer Flüchtlingsunterkunft, ist 21 Jahre alt.
Wer ist der Mann? Die Staatsanwaltschaft wirft ihm neben Sachbeschädigung vor, zwei Mitbewohner mit einem Stock, einen Sicherheitsmann mit einer Aluminiumstange geschlagen und ihn gebissen zu haben. Die Voraussetzungen für Untersuchungshaft seien „derzeit nicht erfüllt.” Er musste aber in einen separaten Container umziehen: Ein neu engagierter Sicherheitsdienst soll Mitarbeiter und Bewohner vor ihm schützen, die sich ebenfalls Gedanken machen über ihren Nachbarn, nicht erkannt werden wollen.
Nachbar, verdeckt, auf Englisch (übersetzt):
„Im Moment ist er okay. Aber vielleicht wird es schlimmer. Er könnte etwas machen und er könnte Menschen verletzen.”
Was sagt er zu all dem? Auf dem Gelände dürfen wir nicht drehen. Also hinterlassen wir dem Mann einen Brief. Doch eine Antwort erhalten wir bis heute nicht.
Die Landrätin Bettina Dickes sagt, all das sei nicht mehr tragbar. Aber weil nach Afghanistan derzeit nicht abgeschoben werden könne, bleibe der Mann in Windesheim. Obwohl er ein potentielles Sicherheitsrisiko sei, und die Befürchtung bestehe, dass er sich auch religiös radikalisiert habe.

Bettina Dickes, CDU, Landrätin Bad Kreuznach:
„Wenn ich jetzt sagen würde, der ist ja gar nicht so gefährlich. Und dann ist er morgen vielleicht jemand, der etwas anstellt, aufgrund, wie gesagt, auch verschiedener Sätze, die er geäußert hat, macht er mir schon Bauchweh.”
Bauchweh wegen eines ausreisepflichtigen, abgelehnten Asylbewerbers.
Unsere Recherche zeigt: Es gibt noch mehr solcher Fälle. Und die Behörden scheinen irgendwie machtlos zu sein.
Keine Abschiebung ohne Freiwilligkeitserklärung
Wir sind in Wismar, in Mecklenburg-Vorpommern, bei der Ausländerbehörde. Jeder einzelne straffällige ausreisepflichtige Asylbewerber ist für die Mitarbeiter hier eine Menge Arbeit.
Bei manchen Nationalitäten werde es manchmal sogar auch absurd, erzählt der Fachdienstleiter: Beispiel Iran, dessen Botschaft Abschiebekandidaten nur einen Pass ausstelle, wenn sie unterschreiben, dass sie auch wirklich abgeschoben werden wollen.

Hans-Martin Helbig, Fachdienstleiter Ordnung/Sicherheit, Landkreis Nordwestmecklenburg:
„Ohne diese Freiwilligkeitserklärung, ich möchte das unbedingt, ich möchte in die Heimat zurück, wird das nix. Und das ist sehr frustrierend, wenn man dann sagt, der bleibt jetzt für sein Leben vielleicht hier.”
Die iranische Botschaft erklärt auf Nachfrage:
„Eine erzwungene Rückführung ohne Zustimmung der betroffenen Person widerspricht humanitären Grundsätzen”.
Einer der Sachbearbeiter erzählt uns von einem besonderen Fall, ein ausreisepflichtiger Iraner. Mohammad H. Mehrfach straffällig, am Ende weit über 130 Mal. Auffällig auch beim Besuch auf dem Amt, sagt er.

Herr Gierke, Sachbearbeiter Asylangelegenheiten, Landkreis Nordwestmecklenburg:
„Er war schnell aufbrausend, wenn er hier war, und nicht das bekam, was er wollte. Einfach unzurechnungsfähig. Er machte den Eindruck, als wenn er jeden Moment explodieren könnte.“
Reporter:
„War der gefährlich?“
Herr Gierke, Sachbearbeiter Asylangelegenheiten, Landkreis Nordwestmecklenburg:
„Aus meiner Sicht ja, definitiv.“
Seit September war klar, dass Mohammad H. abgeschoben wird. Er war in Griechenland als Flüchtling gemeldet. Aber die Abreise sollte erst fünf Monate später stattfinden. Und in dieser Zeit machte Mohammad H. weiter.
Einer der Tatorte. Ein Supermarkt. Im Dezember soll er hier gewalttätig geworden, bei einem Diebstahl erwischt worden sein. Laut Polizei schlug er daraufhin eine Kassiererin. In einem anderen Fall soll er sogar einem Polizisten ins Bein gebissen, nach dessen Waffe gegriffen haben. Der Mann wird zum Politikum.
Die Schalte der Hilflosigkeit
Auch der Landrat schaltet sich ein - erinnert sich auch heute noch gut. An die Gespräche und diese eine Schalte, in der man überlegte, Mohammad H. in Haft zu nehmen. Vorsorglich. Doch die Straftaten und alles andere hätten rechtlich einfach nicht ausgereicht.

Tino Schomann, CDU, Landrat Nordwestmecklenburg:
„Gefühlt war das für mich die Schalte der Hilflosigkeit, dass alle versucht haben, auch die Polizei mit Meldeauflagen, dass sie sich melden muss und so weiter und so fort. Und alle dann gesagt haben, also gefühlt so: Hoffen wir mal, dass es das Beste ist, dass nichts passiert. Wir haben alles gemacht.”
Einen Tag vor der geplanten Abschiebung passiert es dann aber doch. Hier in der Nähe von seiner Flüchtlingsunterkunft geht er laut Polizei mit einem Messer von hinten auf eine Spaziergängerin los, sticht ihr ins Bein und läuft weg.
Der Mann ist mittlerweile nicht mehr in Deutschland. Am 13. Februar übergibt ihn die Bundespolizei den griechischen Behörden. Wo er jetzt ist? Keiner kann es uns beantworten.
Wie gesagt: In unserer Recherche begegnen uns viele solcher Fälle. Jeder komplex, jeder ein Einzelfall.
Wie viele straffällige Ausreisepflichtige gibt es eigentlich? Das Bundesinnenministerium kann auf Nachfrage keine Angaben machen, dasselbe bei den Bundesländern. Bis auf Bayern keine Antwort auf unsere Frage. Man verweist uns weiter an die Kommunen. Wir haben alle kreisfreien Städte und Landkreise angefragt. Und auch hier: Das gleiche Ergebnis. Nur rund 17 Prozent machen überhaupt Angaben. Am Ende kommen wir so auf mindestens 7000 straffällige Ausreisepflichtige. Den Angaben zufolge reichen die Delikte von Fahren ohne Ticket, über Diebstahl bis hin zu schwerer Körperverletzung oder Mord.
Forderung nach mehr Möglichkeiten für Abschiebehaft
Wir sind in Stuttgart beim sogenannten „Sonderstab Gefährliche Ausländer” der Landesregierung, gedacht, um sicherzustellen, dass ausreisepflichtige, verurteilte schwere Straftäter das Land schnell verlassen. Doch das funktioniert nicht immer: Der Staatssekretär erzählt von 80 Afghanen, die zum Teil nach Verbüßen ihrer Strafen in Freiheit lebten. Das bereite ihm Sorge.

Siegfried Lorek, CDU, Staatssekretär im Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg:
„Wenn einer dieser 80 Fälle jetzt hier eine schwere Straftat begeht, dann reden alle von Staatsversagen. Und das völlig berechtigt. aber wir leben in einem Rechtsstaat und ich habe im Moment nicht die Möglichkeit, diese 80 Menschen zu inhaftieren. Das sind ausreisepflichtige Straftäter, laufen aber teilweise noch frei rum.”
Auch deshalb müssten die Regeln für Abschiebehaft bei Straftätern erweitert werden. Eine Forderung, die in diesen Tagen viele erheben. Teile der CDU, aber auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer von der SPD. Also: Ausreisepflichtige Straftäter auch nach Absitzen ihrer Haftstrafe in Gewahrsam zu nehmen, bis sie Deutschland verlassen.
Eine Menschenrechtsverletzung?
Professor Hannes Schammann sitzt im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Migration. Er sagt: Die Vorschläge seien nicht nur juristisch problematisch, sondern vor allem auch moralisch. Es gehe um Menschenrechte.

Prof. Hannes Schammann, Migrationsforscher, Universität Hildesheim:
„Die Frage ist immer bei einer Abschiebehaft: Wie lange geht das? Kann ich ein Ende absehen? Und wenn das nicht geht, wenn es sein könnte, dass jemand jahrelang in Haft kommt, ohne dass dafür eine Straftat zugrunde liegt, dann dürfte es rechtlich schwierig werden.“
Ein Dilemma und eine Gefahr, dass die Stimmung kippt. Gegen alle, die in Deutschland Asyl suchen.
Akbar, Asylsuchender, auf Englisch (übersetzt):
„Wir spüren schon so eine Art Angst, wegen allem was da zu hören ist.”
Nachbar, verdeckt, auf Englisch (übersetzt):
„Wir sind mit den Menschen in Deutschland. Es ist traurig, was alles passiert.”
Hussam, Asylsuchender, auf Arabisch (übersetzt):
„Ich bin einfach hier, um zu lernen, zu arbeiten, um anderen zu helfen.”
Wir halten fest: Kommunen, die sich allein gelassen fühlen, oft am komplizierten Asylrecht verzweifeln und Vorschläge, die laut Experten juristisch und moralisch schwierig sind. Für all das muss die neue Bundesregierung Antworten finden.
Stand: 05.03.2025 13:33 Uhr