Vermeidbare Rettungseinsätze - Personalmangel im Pflegeheim
Pflegebedürftige werden oft ins Krankenhaus eingewiesen, weil der Notarzt die Krankengeschichte nicht kennt. Die Barmer kommt im Pflegereport 2023 zum Ergebnis: Bei besserer Versorgung könnten 1,3 Millionen Einweisungen vermieden werden.
Wir sind in Jena. Der ärztliche Leiter Rettungsdienst, Sebastian Lang, beklagt: Viel zu oft müssten Patienten ins Krankenhaus gefahren und am selben Tag wieder zurückgebracht werden.
Sebastian Lang, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Jena:
„Alle Rettungsmittel, die mit solchen Bagatellen jetzt schon belegt sind, können für andere, schwere Einsätze, schwer verletzte, erkrankte Patienten nicht zur Verfügung stehen.“
Deshalb untersucht er seit Herbst 2023 zusammen mit dem Uniklinikum jeden einzelnen Fall.
Sebastian Lang, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Jena:
„Wir können hier ganz konkret im Durchschnitt in 48 Stunden von ungefähr acht bis zehn, manchmal sogar zwölf Fällen berichten.“
Viele vermeidbare Krankenhaustransporte aus Alten- und Pflegeheimen
Rund die Hälfte der vermeidbaren Krankenhaustransporte in Jena betreffen Menschen, die in einem Alten- oder Pflegeheim leben. Diese Frau zum Beispiel klagte an einem Sonntagabend über Luftnot, als der Rettungsdienst alarmiert wurde.
Sebastian Lang, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Jena:
„Die Hausärztin war nicht erreichbar gewesen, sodass also der Einsatz dann über den Notruf die eins-eins-zwei in die Leitstelle aufgenommen wurde.“
Bei Luftnot müssen nach einem Notruf Arzt und Rettungsdienst kommen. Aber was wäre gewesen, wenn irgendjemand die Hausärztin hätte kontaktieren können? Wir fragen nach bei Kathrin Humbsch. Sie hatte an diesem Sonntagabend frei. Hätte sie den Krankenhaustransport verhindern können?
Dr. Kathrin Humbsch, Hausärztin, Jena:
„Es gibt in dem Falle ein Notfallmedikament, was ich hätte einsetzen können und von dem ich weiß, dass es bei dieser Patientin auch immer schon gut und schnell gewirkt hat.“
Rückfrage Reporter:
„Weil sie die Patientin kennen, hätten sie letztendlich die Krankenhauseinlieferung mit einer Tablette verhindern können?“
Dr. Kathrin Humbsch, Hausärztin, Jena:
„In dem speziellen Fall, ja.“
Sebastian Lang, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst, Jena:
„Wir brauchen Informationen über unsere Patienten, die wir im Rettungsdienst behandeln. Nur wenn wir Informationen haben, können wir auch diese vermeidbaren Transporte auch wirklich vermeiden.“
Rettungsdiensteinsätze in Pflegeheimen kommen also oftmals zustande, weil Hausärzte oder medizinisch qualifiziertes Personal in Notfällen nicht zur Verfügung stehen. Dazu später mehr. Unsere Recherchen verdeutlichen ein weiteres Problem.
Rettungsdienst kommt wegen Personalmangel im Heim
Pflegekräfte alarmieren Rettungsdienste auch bei akuter Personalnot. Wie zum Beispiel im April in der Einrichtung des Betreibers Domicil in Berlin. Der Fall wurde breit diskutiert. Eine Pflegerin versuchte ihre Vorgesetzten zu erreichen, als sie bemerkte, zum Nachtdienst kommt keine Pflegefachkraft. Nur drei Hilfskräfte wären in der Nacht für 142 Bewohner verantwortlich gewesen. Doch sie erreicht niemanden. Nach ihrem Notruf rücken Polizei und Feuerwehr an.
Der Pflegepolitiker Lars Düsterhöft hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt.
Lars Düsterhöft, SPD, Pflegepolitischer Sprecher Berliner Abgeordnetenhaus:
„Aus meiner Sicht ist das ein Offenbarungseid für den Träger. (…) Wenn die Ketten innerhalb einer Einrichtung nicht mehr funktionieren, die Telefonketten nicht mehr funktionieren, dann ist das ein systematisches Versagen des Betreibers.“
Auf REPORT MAINZ Anfrage weist Domicil den Vorwurf struktureller Defizite zurück. Sagt aber, dass die „Kollegin richtig“ gehandelt habe. (…) Es habe „zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung der Bewohner“ bestanden. „Bei dem Vorfall (…) habe es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände aufgrund des EDV-gestützten Dienstplanprogramms“ gehandelt.
Ein Einzelfall? Ganz und gar nicht. Ende April waren in Schleswig-Holstein Rettungskräfte in einem Pflegeheim im Großeinsatz, nachdem ein Pfleger erkrankte und den Notdienst alarmierte. Ende 2023 konnten in Rheinland-Pfalz und in Sachsen vergleichbare Rettungsdiensteinsätze von der Heimaufsicht gerade noch abgewendet werden.
Folgen des Personalmangels in Pflegeheimen
Die Pflegewissenschaftlerin, Tanja Segmüller, beobachtet diese Entwicklung seit Jahren mit großer Sorge.
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Wir müssen leider davon auszugehen, dass es immer wieder zu solchen Einsätzen kommt. Und dieser Mangel an Pflegepersonal ist so eklatant, dass eben in den ganzen Häusern das Personal so knapp besetzt ist, dass wenn dann eine Person ausfällt, die nächste Schicht nicht mehr sichergestellt ist und dann die AltenheimbewohnerInnen auf sich allein gestellt sind.“
Notrufe als Verzweiflungstat. In Pflegeheimen, die oftmals nicht genug Personal haben, um den normalen Alltag bewältigen zu können.
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Und dann versuchen die Altenheime Personal zu rekrutieren, unter anderem aus dem Ausland, und da werden dann häufig auch Menschen rekrutiert, die keine oder nur eine sehr schlechte Ausbildung haben.“
In Baden-Württemberg treffen wir zwei Insider eines Pflegeheims. Aus Angst möchten sie nicht erkannt werden. Sie berichten von wenig qualifiziertem Personal in dieser Einrichtung.
Insider verdeckt:
„Da arbeiten viele, die gar kein Deutsch oder ganz schlechtes Deutsch sprechen und noch nie in der Pflege waren. Und eingelernt werden sie auch nicht richtig.“
Das Heim räumt ein, dass „Mitarbeiter angestellt sind“, „deren Deutschniveau für ein selbständiges Arbeiten noch nicht ausreicht.“ Diese würden „unter Anleitung von sprachkundigeren Mitarbeitern“ arbeiten. Mitarbeiter, die vorher noch nicht dort gearbeitet haben, habe man „eine Anleitungsmitarbeiterin zur Seite gestellt.“ Was heißt das für die Qualität in der Pflege?
Wundgelegene Menschen
Wir bekommen Bilder aus dem Pflegeheim zugespielt: Menschen mit Druckgeschwüren, im Fachjargon Dekubiti.
Wir zeigen sie Pflegewissenschaftlerin Tanja Segmüller. Dieses Foto zeigt einen Mann mit Wunden am Rücken. Er sei mittlerweile verstorben.
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Ein ganz schlimmer Dekubitus vierten Grades, der schlimmste Grad bis auf den Knochen. Die Person muss entsetzliche Schmerzen gehabt haben.“
Diese Frau leidet an einem Dekubitus an der Ferse.
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Kann man relativ einfach verhindern, indem man ein Kissen unter die Unterschenkel legt, und dann sind die Fersen hochgelagert. (…) Auch ein Dekubitus und ein Pflegefehler.“
Zu den Wundbildern sagt der Geschäftsführer des Pflegeheims:
„Da diese Aufnahmen nicht mit den autorisierten Wunddokumentationen übereinstimmen, ist es kaum möglich eindeutige Zuordnungen vorzunehmen. Diese sind jedoch notwendig, um den Wundverlauf zu eruieren, bzw. um festzustellen, ob diese Wunden hier im Hause entstanden sind, bzw. sich hier negativ entwickelt haben.“
Die zuständige Heimaufsicht sagt auf REPORT MAINZ Nachfrage: Die „anonymen Bilder“ ließen „keine Rückschlüsse auf die betroffenen Personen“ zu. „Seit Inbetriebnahme“ der „Pflegeeinrichtung“ habe es „mehrfach“ „Kontrollen“ gegeben. Im August habe man „keine Mängel in der Wundversorgung feststellen“ können. Die Behörde räumt aber ein: „Wundverbände werden dabei nicht zu Kontrollzwecken geöffnet, sofern (…) aus der Dokumentation eine ordnungsgemäße Behandlung (…) hervorgeht.“ Das sei „bei den stichprobenhaft geprüften Bewohnerakten“ der Fall gewesen.
Wir halten fest: Die Heimaufsicht hat die Bewohnerakten nur stichprobenhaft untersucht. Der Heimleiter kann die Bilder den Bewohnern nicht eindeutig zuordnen.
Dekubiti hätten verhindert werden können
Fragen hinsichtlich der Verantwortung bleiben also offen. Aber:
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Bei guter und vernünftiger fachgerechter Pflege hätte so etwas nicht passieren dürfen.“
Rückfrage Reporter:
„Und das ist eindeutig bei allen Bildern, die ich Ihnen jetzt gezeigt habe?“
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Absolut, ja.“
Und am Ende landen viele Patienten im Krankenhaus.
Viele potenziell vermeidbare Krankenhausfälle
Im Pflegereport 2023 kommt die Barmer zum Ergebnis: 1,3 Millionen Krankenhausfälle von Pflegebedürftigen seien potenziell vermeidbar, wenn Patienten besser versorgt würden.
Lösungsvorschläge der Bundesregierung?
Und was plant Bundesgesundheitsminister Lauterbach dazu? Sein Ministerium antwortet schriftlich. Es seien „gesetzliche Voraussetzungen“ geschaffen worden, um eine „berufsgruppenübergreifende Versorgung zwischen den Pflegeeinrichtungen und niedergelassenen Ärzten umzusetzen“.
Und: „Die vielfältigen Kompetenzen von Pflegefachpersonen“ sollen „zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Ausübung erweiterter heilkundlicher Aufgaben (…) erweitert werden“.
Vor allem medizinisch besser qualifizierte Pflegende könnten die Versorgungssituation in Heimen so stabilisieren, dass es kaum noch zu vermeidbaren Rettungsdiensteinsätzen kommt. Aber:
Prof. Tanja Segmüller, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule für Gesundheit, Bochum:
„Außer wenigen Modellprojekten ist in den letzten zehn Jahren nichts passiert. Und damit wir diese Pflegenden nun bekommen können, werden noch vier, fünf weitere Jahre vergehen. Durch Fort- und Weiterbildung ist also davon auszugehen, dass sich im System in den nächsten fünf Jahren nichts ändern wird.“
Stand: 16.10.2024 15:15 Uhr