Di., 08.03.22 | 22:10 Uhr
Ausgebeutet in Deutschland: Ukrainerinnen in der 24-Stunden-Pflege
Seit Jahren arbeiten Ukrainerinnen im Betreuungssektor hierzulande zu Dumpinglöhnen. Krieg und Flucht wird die Ausbeutung verschärfen, warnen Experten. Verzweifelt könnten viele Flüchtlinge prekäre Arbeitsbedingungen hinnehmen, den Preisdruck erhöhen und somit etablierte Betreuerinnen aus Polen und Rumänien verdrängen.
Ihre Verzweiflung war schon vor dem Krieg so groß, dass sie ihr Zuhause in der Ukraine bereits vor Monaten verlassen hat. Kataryna will nicht erkannt werden. Sie befürchtet, ihre Arbeit in der sogenannten "24-Stunden-Pflege" zu verlieren.
Kataryna:
"Ich hatte keine Wahl. In der Ukraine gibt es kaum Arbeit. Höchstens für junge Menschen, die gut ausgebildet sind. Dann verdient man rund 150 Euro im Monat. Wie soll man davon leben? In der Ukraine habe ich drei Jobs parallel gehabt, ohne einen freien Tag."
Durch den Krieg hat sich die Situation für die Ukrainerinnen verschlimmert. Sie könnten jetzt vermehrt nach Deutschland kommen, um dort als Betreuerinnen zu arbeiten.
Kataryna:
"In Deutschland kann ich wenigstens etwas mehr Geld verdienen. Die Menschen, bei denen ich arbeite, sind schwer pflegebedürftig. Das ist Schwerstarbeit. Ich weine fast jeden Tag, aber ich beiße auf die Zähne. Ich vermisse meine Familie, meinen Sohn."
Seit drei Tagen hat Kataryna wegen des Krieges nichts von ihnen gehört.
Bis vor kurzem hat sie hier gearbeitet - beim Vater von Andrea S. Bis zu seinem Tod konnte er zu Hause versorgt werden. Das hat Andrea S. Kataryna zu verdanken. Um sie zu schützen, möchte sie unerkannt bleiben.
Andrea S.:
"Wir mussten innerhalb von ein paar Tagen eine Pflegekraft organisieren. Wir waren beide berufstätig, mein Mann und ich. Wir haben uns dann umgehört und eine deutsche Agentur hat uns ein Angebot erstellt. Die hat mit einer polnischen Agentur zusammengearbeitet, die Kontakte zu ukrainischen Betreuerinnen hatte. Und so kam Kataryna zu uns."
Die Agentur habe gesagt, Kataryna sei legal in Deutschland. Als sie sich Andrea S. anvertraut, kommen der Tochter Zweifel.
Andrea S.:
"Wir haben 2.370 Euro für die Dienste von Kataryna im Monat bezahlt, das schien uns noch im machbaren Rahmen. Als sie uns dann aber später erzählte, dass davon nur 900 Euro netto bei ihr ankommen, war das schon ein Schock für uns."
Und das, obwohl Andrea S. ihre ukrainische Betreuungskraft über eine deutsche Agentur vermittelt bekommen hat. 900 Euro netto - Wie ist das möglich?
900 Euro netto im Monat – ist das Ausbeutung?
Seit Jahren werden Betreuerinnen nach Deutschland entsendet. Polnische Firmen werben ukrainische Frauen an und beauftragen sie im sogenannten Entsendeverfahren, in Deutschland pflegebedürftige Menschen zu Hause zu betreuen. Hiesige Vermittlungsagenturen haben Kontakte zu bedürftigen Familien und vermitteln die Dienstleistung durch das polnische Unternehmen. Entsendete Betreuungspersonen aus der EU, also meistens aus Polen oder Rumänien, kennen ihren Marktwert und akzeptieren kaum noch Dumpinglöhne. Anders ist es bei Ukrainerinnen, deren Not sehr groß ist.
Wie rechtfertigen deutsche Agenturen solche Dumpinglöhne? Darüber will niemand offen mit uns sprechen. Nur Agenturchefin Renata Föry. Ihr Unternehmen vermittelt auch Dienstleistungen von Ukrainerinnen, die teilweise nur mit 900 Euro netto entlohnt werden. Für Familien entstehen Kosten ab 1.770 Euro im Monat.
Renata Föry, Seniocare 24:
"Die 900 Euro ist nur für die Pflegekräfte, die kaum Deutsch sprechen."
Reporter:
"Ist da noch der Mindestlohn gewährleistet?"
Renata Föry, Seniocare 24:
"Ja, der Mindestlohn ist gewährleistet. Und am liebsten hätte ich, dass diese Frauen 2.000 netto verdienen, nicht 900 Euro. Es ist viel zu wenig. Ich weiß das."
Reporter:
"Sind 900 Euro netto Ausbeutung?"
Renata Föry, Seniocare 24:
"Keine Pflegekraft verdient unter 900 Euro."
Reporter:
"Aber sind 900 Euro Ausbeutung?"
Renata Föry, Seniocare 24:
"Nein. Es ist noch nicht Ausbeutung, aber es ist gerade an der Grenze."
Wir zeigen diese Aussagen einem Brancheninsider. Daniel Schlör ist Vorsitzender des Bundesverbandes für Häusliche Betreuung und Pflege, kurz VHBP. Seniocare von Renata Föry ist nicht Mitglied des Verbandes. Und: Wir bitten Arbeitsrechtler Prof. Gregor Thüsing von der Universität Bonn um eine Einschätzung.
Prof. Gregor Thüsing, Arbeitsrechtler, Universität Bonn:
"24-Stunden-Betreuung heißt nicht 24 Stunden rund um die Uhr. Wenn wir aber von 40 Stunden ausgehen, dann sind das 172 Stunden im Monat. Dann sind das 5,20 Euro irgendwas, wenn sie 900 Euro netto bekommen. Es gilt aus gutem Grund in Deutschland das Verbot sittenwidriger Vergütung und 5,20 Euro pro Stunde sind sittenwidrig."
Daniel Schlör, Bundesverband für Häusliche Betreuung und Pflege (VHBP):
"Für mich ist das ganz klar Ausbeutung. Ukrainische Betreuungskräfte arbeiten hier illegal, würden sich schon allein deswegen niemals über Arbeitsbedingungen beschweren und haben gar keine, gar keine Chance, sich gegen diese Situation zu wehren. Die müssen das akzeptieren, sonst haben sie kein Geld, keinen Job."
Ermittlungen gegen deutsche Vermittlungsagenturen
November 2020: In einer bundesweiten Razzia gehen Bundespolizei und Zoll gegen die illegale Vermittlung ukrainischer Betreuerinnen vor. Im Visier: Über 50 deutsche Vermittlungsagenturen und deren polnische Partner. An die tausend Aktenordner und unzählige Datenträger werden beschlagnahmt.
Der Verdacht der Staatsanwaltschaft Görlitz: Ukrainische Betreuerinnen sollen gewerbsmäßig nach Deutschland eingeschleust und unerlaubt beschäftigt worden sein. Ein Ende der Ermittlungen ist nicht absehbar.
Ermittelt wird auch gegen Renata Föry von Seniocare 24. Sie ist der Überzeugung, nicht gegen Gesetze zu verstoßen. Sie zeigt uns ihre Sicht der Dinge, zusammengefasst auf fünf Seiten Papier. Demnach sei bei der Entsendung von Ukrainerinnen nach Deutschland "kein deutsches Visum oder eine deutsche Arbeitserlaubnis einzuholen".
Renata Föry, Seniocare 24:
"Wir gingen und gehen immer davon aus, dass ein polnisches Unternehmen aufgrund der EU-Rechte das Recht hat, auch ukrainisches Personal in ein anderes EU-Land problemlos für 90 Tage ohne deutsches Visum zu entsenden. Deutschland hat hierbei allerdings zusätzliche Hürden eingebaut, um diese Entsendung unmöglich zu machen. Wir haben viel recherchiert. Wir haben so viele Rechtsauskünfte von so vielen Anwälten erhalten, die besagen, dass diese zusätzlichen Hürden nicht statthaft sind."
Prof. Gregor Thüsing, Arbeitsrechtler, Universität Bonn:
"Grundsätzlich sind die rechtlichen Regelungen sehr klar. Wenn Sie als Drittstaatenangehörige, als Ukrainerin, hier arbeiten wollen, brauchen Sie ein Visum. Sie brauchen eine Arbeitserlaubnis. Davon gibt es ganz enge Ausnahmen. Wenn Sie eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, die kriegen sie regelmäßig nur nach mehreren Jahren in einem anderen EU-Staat, haben, etwa in Polen, dann können Sie bis zu 90 Tage pro Jahr auch nach Deutschland entsandt werden. Dann brauchen Sie auch kein Visum und keine Arbeitserlaubnis. Die Voraussetzungen sind aber regelmäßig nicht gegeben, sodass für den Regelfall bleibt: Nur Visum und Arbeitserlaubnis berechtigen Sie zur Arbeit in Deutschland."
Verbandschef Daniel Schlör teilt die Auffassung des Arbeitsrechtlers. Eine Abfrage bei Mitgliedsunternehmen des Verbandes ergab: Rund ein Drittel von ihnen vermittelten auch Dienstleistungen von Ukrainerinnen - in Tausenden von Fällen. Vor wenigen Wochen zieht der Verband Konsequenzen. Mitglied im Verband können demnach nur noch Unternehmen sein, die keine ukrainischen Betreuungskräfte mehr vermitteln.
Doch kurze Zeit später beginnt Putins Krieg gegen die Ukraine. Mehr als zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht - darunter auch viele potenzielle Betreuungskräfte.
Ukrainische Flüchtlinge haben jetzt Zugang zum Arbeitsmarkt und könnten niedrigste Löhne akzeptieren
Am vergangenen Donnerstag stellt die EU die bisherige Rechtssituation von Ukrainerinnen auf den Kopf. Es geht jetzt, was bislang unmöglich war. Die sogenannte "Massenzustromrichtlinie" wird angewendet, die Kriegsflüchtlingen einen vorübergehenden Schutz gewährt. Und: Zugang zum Arbeitsmarkt. Das könnte die in Deutschland etablierten Betreuerinnen aus Polen und Rumänien bald den Job kosten.
Daniel Schlör, Bundesverband für Häusliche Betreuung und Pflege (VHBP):
"Wir werden erleben, dass in den nächsten Wochen die ukrainischen Betreuungskräfte die Betreuungskräfte aus zum Beispiel Polen und Rumänien vom Markt verdrängen werden. Das liegt daran, dass sie für deutlich weniger Gehalt arbeiten, dass sie alle Rahmenbedingungen akzeptieren, einfach nur, um ihre Familien zu ernähren. Und das wird dazu führen, dass das Gesundheitssystem in Deutschland vom Krieg in der Ukraine noch profitiert. Das darf natürlich nicht sein."
Prof. Gregor Thüsing, Arbeitsrechtler, Universität Bonn:
"Die durch die Massenzustromrichtlinie ausgelöste Situation wird auch vielleicht sogar zu einem Preiskampf führen auf dem Pflegemarkt und wir müssen sicher sein, dass da durch gesetzgeberische Regelungen entgegengewirkt wird. Die Koalition hat im Koalitionsvertrag ausdrücklich gesagt: Wir wollen rechtssichere Regelungen in der 24-Stunden-Pflege schaffen. Das heißt aber auch: Wir müssen sicherstellen, dass angemessene Arbeitsbedingungen für die Pflegepersonen bestehen. Das ist ein Auftrag, dem sich die Koalition jetzt dringend stellen muss."
Auf REPORT MAINZ-Anfrage sagt Arbeitsminister Heil nicht, wie diese "rechtssichere Grundlage" aussehen könnte. Und wie geht es mit den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen weiter? Unsere konkrete Anfrage bleibt unbeantwortet.
Kataryna betreut derzeit eine demente Seniorin in Süddeutschland. Nach der Entscheidung der EU darf sie das jetzt auch ganz legal. Ob sie in Zukunft einen angemessenen Lohn bekommt, ist unklar. Sie hofft auf die Politik.
Kataryna:
"Natürlich fühle ich mich jetzt sicherer, wenigstens hier. Bald muss ich mich nicht mehr verstecken. Was ich aber nicht verstehe: Warum braucht es dafür einen Krieg, dass wir Ukrainerinnen hier arbeiten dürfen? Das ist traurig."
Stand: 9.3.2022, 15.01 Uhr
Stand: 08.02.2023 15:27 Uhr