Di., 01.02.22 | 21:45 Uhr
Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal: Betroffene warten noch immer auf finanzielle Hilfen
Knapp sieben Monate nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen kann ein Großteil der Spendengelder für den Wiederaufbau nicht ausgezahlt werden. Viel Geld liegt noch auf den Spendenkonten. Nach Recherchen von REPORT MAINZ liegen bei Aktion Deutschland Hilft noch immer rund 56 Prozent der Spendengelder auf dem Konto, rund 157 Millionen Euro. Auf der anderen Seite flossen nach REPORT MAINZ-Recherchen auch Gelder in ein fragwürdiges Projekt einer Hilfsorganisation.
Wir sind unterwegs mit Nadia Ayche in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Seit Beginn der Flut ist sie als private Helferin unterwegs und hat für heute eine Bohrmaschine im Gepäck. Und einen Geldumschlag mit 500 Euro.
Günter Groß, Flutopfer:
"Ganz herzlichen Dank."
Alles finanziert aus privaten Spenden - für Menschen wie Günter Groß. Bei dem 85-Jährigen stand das ganze Erdgeschoss unter Wasser. Seitdem ist er auf sich allein gestellt. Von den großen Hilfsorganisationen fühlt er sich im Stich gelassen.
Günter Groß, Flutopfer:
"Mein Erspartes geht zuneige. Wenn ich das nicht gehabt hätte, ich hätte nicht gewusst. Ich kriege doch keinen Kredit mehr mit 85 Jahren."
Reporter:
"Haben Sie das Gefühl, es kommt nicht genug Hilfe an?"
Günter Groß, Flutopfer:
"Nichts, gar nichts, gar nichts. Das ist schon traurig sowas."
Ihr kleiner Verein hat bisher über 150.000 Euro an Spenden ausgezahlt. Und trotzdem langt es nicht. Jeden Tag melden sich neue Flutopfer bei ihr - verzweifelt, in Not, weil keine Spendengelder angekommen seien.
Nadia Ayche, Verein "Einfach machen":
"Also, es zermürbt die Menschen, weil sie haben ihre Heimat verloren, ihre ganze Existenz."
Viel Geld ist noch nicht ausgezahlt
Spenden, die nicht ankommen. Ist das wirklich so? Über ein halbes Jahr nach der Katastrophe, die eine ganze Region in einer Nacht zerstörte. Und obwohl mehr als 580 Millionen Euro an Spendengeldern gesammelt wurden.
Wir haben bei den großen Hilfsorganisationen nachgefragt. Sie erklären, gerade zu Beginn der Katastrophe viel Hilfe geleistet zu haben, unter anderem rund 30 Millionen Euro an Soforthilfe. Und trotzdem: Ein Großteil des Geldes liege immer noch auf dem Konto. Und bleibt vorerst dort. Bei der Aktion Deutschland Hilft allein sind es gut 157 Millionen Euro.
Reporter:
"Warum zahlen Sie nicht mehr aus?"
Manuela Roßbach, Aktion Deutschland Hilft e.V.:
"Die rechtliche Situation verlangsamt komplett die Auszahlungen. Also das möchten wir eigentlich nicht. Wir würden den Betroffenen lieber jetzt helfen und jetzt Spenden zur Verfügung stellen."
Doch die komplizierten Gesetze machten all dem einen Strich durch die Rechnung. Schon beim Hochwasser im Jahr 2013 sei das so gewesen - Auszahlungen, die zum Teil erst Jahre später möglich wurden. Geschichte, die sich jetzt wiederholen könnte.
Reporter:
"Und trotzdem haben Sie im großen Stil für Spenden geworben, man hatte den Eindruck, das geht jetzt auch sehr schnell. Hätten Sie das nicht auch dazusagen müssen?"
Manuela Roßbach, Aktion Deutschland Hilft e.V.:
"Wir haben es in den Interviews immer gesagt, dass wir erst einsetzen konnten, wenn die staatlichen Hilfen geflossen sind. Und wir haben auch gesagt, dass wir uns erhoffen, dass es hier schneller geht."
Reporter:
"Ist aber nicht passiert, nicht?"
Manuela Roßbach, Aktion Deutschland Hilft e.V.:
"Ja, aber das… ja."
Dabei sollte das diesmal doch alles ganz anders laufen: Schnell und unbürokratisch. Das Versprechen der Politik, allen voran des heutigen Bundeskanzlers, damals noch Kanzlerkandidat und Finanzminister.
Das Grundproblem ist das komplizierte Spendenrecht: Denn die Hilfsorganisationen müssen sich dabei eigentlich am Sozialhilfesatz orientieren - die wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit genau prüfen.
Für die Flut hätten Bund und Land das alles zwar deutlich vereinfacht, erklärt der Vorsitzende des Deutschen Fundraising Verbands, doch nur für sogenannte Soforthilfen bis 5.000 Euro. Beim Wiederaufbau gehe es aber um viel höhere Summen. Die Ausnahme gilt hier nicht.
Martin Georgi, Deutscher Fundraising Verband:
"Die meisten Hilfsorganisationen, die hier in der Region tätig sind, stoßen sich an diesen Regelungen, weil es immer wieder bürokratische und andere Regelungen gibt, die nicht so leicht in die Praxis der Nothilfe und der Realität hier im Ahrtal passen."
Heißt: Die starren Regeln verzögerten die finanzielle Hilfe, verhinderten sie teilweise sogar.
Komplizierte Regeln für Gewerbetreibende
Die Winzerfamilie Lingen hat das erlebt. Ihr ganzer Keller wurde überflutet - mindestens eine halbe Million Euro Schaden. Schnell war klar: Ohne Hilfe schaffen sie das nicht. Zusammen mit anderen Weingütern kam die Familie auf eine Idee - eine eigene Hilfsorganisation. Flutwein.
Rund sieben Millionen Euro sind bisher zusammengekommen. Doch auch hier macht das Spendenrecht einen Strich durch die Rechnung. Die Winzer dürfen das Geld nicht abheben - weil Spenden an Unternehmer laut Gesetzeslage verboten sind. Obwohl die Winzer es selbst eingesammelt haben.
Tanja und Jan Lingen, Weingut Peter Lingen:
"Was auf dem Konto liegt war als Hilfe fürs Ahrtal gedacht. Und dass das jetzt auf dem Konto versauert, ist ja weder im Sinne des Spenders noch im Sinne des Empfängers."
Wir fassen nochmal zusammen: Ein Spendenrecht, das schnelle Hilfe deutlich erschwert, in Teilen sogar unmöglich macht. Und eine Politik, die selbst nicht mehr durchzublicken scheint. Niemand fühlt sich zuständig für eine Lösung.
Das Bundesfinanzministerium verweist gegenüber REPORT MAINZ auf die Landesfinanzbehörde. Das rheinland-pfälzische Finanzministerium wiederum erklärt, Spendenrecht ist Bundesrecht. Im Rahmen der Gesetzeslage versuche man aber zu helfen.
Mikroorganismen: Fragwürdige Spendenausgaben?
Zurück bleiben die Menschen im Ahrtal. So wie Familie Pöstges. Wir stoßen auf ein fragwürdiges Projekt einer Spendenorganisation. 7.000 Liter rötliches Heizöl hatte die Familie im Keller, seit der Flut ist es hier in den Wänden - und das riecht man auch. Geld für die Beseitigung gab es nicht, dafür aber schenkte ihr die Hilfsorganisation ADRA diesen Kanister - darin: sogenannte Mikroorganismen. Überall im Flutgebiet werden sie verteilt. 450.000 Euro stehen dafür bereit. Das Geld kommt von der Aktion Deutschland Hilft, die Hilfsorganisation ADRA verteilt die Organismen. Angeblich wirken die gegen Gerüche, Schimmel und Öl.
Wir wollen es genau wissen und geben die Flüssigkeit zur Analyse ins Labor. Doch der Mikrobiologe Prof. Dirk Bockmühl findet in dem angeblichen Wundermittel nur Milchsäure und Hefebakterien und das auch noch in geringer Konzentration. Aus seiner Sicht haben diese Mikroorganismen keine Wirkung gegen Öl:
Prof. Dirk Bockmühl, Mikrobiologe, Hochschule Rhein-Waal:
"Die können das eigentlich biologisch nicht. Also insofern ist es schwer zu glauben, dass diese Effekte da eintreten sollen. Also für mich als Wissenschaftler ist das höchst fragwürdig, weil wir natürlich eigentlich davon ausgehen, dass solche Spendengelder auch in Maßnahmen gehen, die wissenschaftlich basiert sind. Und das haben wir ja hier mitnichten."
Weitere Experten bestätigen gegenüber REPORT MAINZ diese Einschätzung. Die Aktion Deutschland Hilft erklärt, sie habe das Projekt im Vorfeld nicht geprüft, will das jetzt aber nach unseren Recherchen nachholen. Die Hilfsorganisation ADRA bleibt dabei:
ADRA Deutschland e.V.:
"Obwohl ein umfangreicher wissenschaftlicher Nachweis noch aussteht, lässt sich daraus unseres Erachtens nicht im Umkehrschluss ableiten, dass es keine evidenzbasierte Wirksamkeit gibt."
Fazit: Spenden fließen teils in ein fragwürdiges Projekt, Wiederaufbauspenden kommen kaum an. Ohne die unkomplizierten Spendengelder von privaten Helfern wie Nadia Ayche, wären viele Menschen im Ahrtal wohl aufgeschmissen.
Stand: 2.2.2022, 13.36 Uhr
Stand: 08.02.2023 15:26 Uhr