Russland-Sanktionen: Mehr als 1.400 Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Sanktionsverstöße
Bundesweite SWR-Umfrage bei Ministerien und Staatsanwaltschaften
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 haben Staatsanwaltschaften in Deutschland mehr als 1.400 Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlicher Sanktionsverstöße in Zusammenhang mit Russland und Belarus geführt. Das hat eine Umfrage des Südwestrundfunks (SWR) bei den Justizministerien der Länder, Staatsanwaltschaften und der Bundesanwaltschaft ergeben.
Die Bandbreite der mutmaßlichen Verstöße reicht demnach von der Lieferung so genannter Dual-Use Güter, die für die militärische Produktion genutzt werden können bis hin zur Ausfuhr von Luxusartikeln für den privaten Gebrauch, etwa Schmuck.
Die meisten Verfahren melden Bayern (448) und Hessen (406). Im Fall Hessen bezieht sich die Anzahl nach Auskunft der zuständigen Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. zwar auf alle Sanktions-Verfahren, diese richteten sich jedoch „bis auf wenige Ausnahmen…gegen Russland und Weißrussland“. Ein Grund für die hohe Zahl sei die Nähe zum Frankfurter Flughafen. Dort ist ein international bedeutendes Logistik-Drehkreuz. Es folgen mit Abstand Hamburg (161), Schleswig-Holstein (112), Brandenburg (107), Baden-Württemberg (90), Rheinland-Pfalz (73), Saarland (21), Mecklenburg-Vorpommern (9) und Thüringen (7). Daraus ergeben sich insgesamt mehr als 1.400 Verfahren.
Tatsächliche Zahl wohl höher
Die tatsächliche Zahl dürfte noch höher liegen, weil einige Behörden keine oder keine genauen Angaben machen. Sie verweisen darauf, keine entsprechenden Statistiken zu führen. So nennt Bremen zwar die Zahl 103, darin könnten allerdings auch Fälle in Zusammenhang mit anderen Ländern wie Iran enthalten sein, heißt es. Auch das Justizministerium Sachsen teilt mit, zu den insgesamt 451 Verfahren, die fünf Staatsanwaltschaften in dem Bundesland wegen Vorstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz führten, seien explizite Angaben zu Verfahren „mit Bezug zu den Russlandsanktionen“ nicht möglich.
Neben den Strafverfolgungsbehörden in den Bundesländern führt auch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe in dem Bereich Ermittlungen und verweist auf drei Verfahren. In einem Fall ging es beispielsweise um Geld, das ein mit EU-Sanktionen belegtes russisches Finanzinstitut bei einer Bank in Frankfurt/M. eingezahlt hatte. Im Übrigen unterrichte man die Öffentlichkeit in der Regel nur bei „Festnahmen und Anklageerhebungen sowie umfangreichen Durchsuchungsmaßnahmen,“ heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme der Bundesanwaltschaft.
Dual-Use-Güter und Luxuswaren
Gegenstand von Ermittlungen ist der Umfrage zufolge öfter die Lieferung von Waren, die auch für militärische Zwecke genutzt werden können – so genannte Dual-use-Güter. Die Staatsanwaltschaft Hamburg berichtet etwa von der Lieferung von „Universalschaltkreisen und Kondensatoren“, die Händler aus dem Ausland bezogen und von Deutschland aus weiterverkauft hätten. Auch von Kraftfahrzeugen, etwa von hochpreisigen Mercedes-Modellen, die aus Deutschland exportiert wurden und auf russischen Verkaufsportalen landeten, berichten die Ermittler. In Thüringen transferierte eine „beschuldigte Person“ Geld nach Russland, mit der eine Firmenniederlassung finanziert werden sollte. Über Umwege landete es bei der von der EU sanktionierten russischen Sberbank.
Daneben haben beispielsweise unerlaubte Rechtsberatungen, der Verkauf eines Pferdes im Wert von 9.500 Euro und die Ausfuhr teurer Luxusgüter wie eine Damenhandtasche der Marke Louis Vuitton die Behörden beschäftigt. Auch vermeintliche Bagatelldelikte wie der Verkauf von Kosmetikartikeln oder die Lieferung von Kerzenfarben nach Moskau landeten auf dem Tisch der Ermittler.
Viele Verfahren eingestellt
Eine Vielzahl von Fällen haben die Staatsanwaltschaften inzwischen eingestellt, etwa wegen Geringfügigkeit oder mangels Beweisen. Das rheinland-pfälzische Justizministerium etwa berichtet, in dem Bundesland seien von den 79 geführten Verfahren rund 50 eingestellt worden. In Brandenburg sind es 38 von 107. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat nach eigenen Angaben bisher 44 von 52 geführten Verfahren eingestellt und führt dies unter anderem darauf zurück, dass es bei den Beschuldigten häufig an Vorsatz fehle, weil sie sich „in einem Irrtum über die Reichweite des Russland-Embargos“ befanden oder weil in manchen Fällen nur eine geringe Schuld feststellbar sei. Ein typischer Fall sei, dass ein Mitarbeiter einer Firma zwar rechtswidrig Ware nach Russland verkaufe, daraus aber keinen eigenen finanziellen Vorteil ziehe. Dadurch fehle ein Tatmotiv. In solchen Fällen könne eine Unternehmensgeldbuße wegen Organisationsmängel in Betracht kommen.
Aus den Ermittlungen resultierten allerdings auch mehrere Strafbefehle und erste Verurteilungen. Erst am Mittwoch hatte das Oberlandesgericht Stuttgart einen Mann wegen der Lieferung von Elektronikbauteilen für militärisches Gerät nach Russland zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Unterstützt wurde er von seiner damaligen Lebensgefährtin, die eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten bekam. Laut Gericht wurde das Material unter anderem für den Bau von Drohnen eingesetzt, die Russland in der Ukraine für Artilleriefeuer einsetzte. Bereits im September hatte das Landgericht Koblenz einen Mann zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er zwischen 2015 und 2021 Motoren und Installationsteile nach Russland lieferte, die auch für militärische Zwecke genutzt werden konnten. Bereits seit 2014 gelten entsprechende Sanktionen. Die Ermittlungen dazu hatten die Ermittlungsbehörden erst nach Februar 2022, dem Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine, aufgenommen.
Aktuell mindestens 176 Ermittlungsverfahren
Aktuell führen die deutschen Strafverfolgungsbehörden laut der Umfrage des SWR mindestens 176 Ermittlungsverfahren. Sie stützen sich dabei auf das Außenwirtschaftsgesetz, das auf entsprechende Sanktionen der Europäischen Union verweist. Die EU hatte seit der russischen Annexion der Krim 2014 damit begonnen, „Ein- und Ausfuhrverbote“ oder so genannte Regionen bezogene Verbote zu verhängen, die Geschäfte in Gebieten wie der Krim oder in den russisch besetzten Gebieten der Ostukraine untersagt. Nach dem Beginn der Vollinvasion in der Ukraine wurden die Sanktionen gegen Russland und Belarus sukzessive erweitert.