Nach Kriegsende: EU fürchtet zunehmenden Waffenschmuggel aus der Ukraine
In Kriegsregionen wie der Ukraine zirkulieren Unmengen von Waffen zum Teil unkontrolliert. Das Ende von Konflikten führt in der Regel dazu, dass Waffen in den Händen von kriminellen und aufständischen Gruppen landen, warnen Experten. Die EU will aus den Erfahrungen nach den Balkankriegen lernen und versucht sich auf einen erhöhten illegalen Handel mit Kriegswaffen vorzubereiten.
Von Florian Barth
Seit Beginn des Angriffskrieges ist die Sorge groß, dass Waffen der ukrainischen Armee und somit Waffensysteme des Westens in das Ausland gelangen und so auf dem Schwarzmarkt landen.
Im Mai letzten Jahres explodierte 30 Kilometer entfernt von Moskau im Kofferraum eines zivilen Fahrzeugs ein schwedischer Panzerabwehr-Granatwerfer, der aus der Ukraine geschmuggelt wurde. Ein pensionierter russischer Militäroffizier, der gerade aus der Ostukraine zurückgekehrt war, hatte die Waffe mit nach Russland genommen. Ob der Mann, der sich bei der Detonation schwer verletze, auch plante, den Granatwerfer zu verkaufen ist nicht bekannt.
Es ist ein seltener Bericht, der belegt, dass Waffen aus der Ukraine ins Ausland gelangen.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind Experten und Politiker besorgt, dass ähnlich wie nach den Balkankriegen Waffen auf den Schwarzmärkten und schließlich bei organisierten Kriminellen landen könnten. So warnte schon im Juli 2022 der damalig stellvertretende Exekutivdirektor von Frontex Lars Gerdes in einer Sitzung des Innenausschusses im Deutschen Bundestag vor dem ungehinderten Zugang zu Schusswaffen und zu Kriegswaffen durch die ukrainische Bevölkerung, so geht es aus dem Wortprotokoll der Sitzung hervor, das dem SWR vorliegt. In der Unterrichtung der Abgeordneten wies er auf die Gefahr hin, dass etablierte Schmuggelrouten und Netzwerke, die in der Vergangenheit insbesondere Zigaretten in die EU geschmuggelt haben, in Zukunft Waffen aus der Ukraine schmuggeln könnten. Weiter sagte Gerdes in der Sitzung: „Und das ist ein grenzüberschreitendes Kriminalitätsphänomen, das wird uns jetzt über Jahrzehnte beschäftigen. Und deshalb wollten wir dort schnell handeln."
Doch wie sieht dieses Handeln in einem vom Krieg zerrüttenden Land aus?
Laut den europäischen Behörden sind Waffenfunde im Ausland noch eine Seltenheit. Dennoch ist die Angst groß, dass nach einem Ende des Krieges der illegale Verkauf von Waffen beginnen könnte, wie nach den Balkankriegen in den 90er Jahren. Auch damals warnten Experten vor dem Waffenschmuggel, der erst viele Jahre nach dem Konflikt zu verzeichnen war, sagt Nils Duquet Direktor des flämischen Friedensinstitutes, dem SWR: „Es gab viele Warnungen, dass diese Waffen sofort aus dem ehemaligen Jugoslawien herausgeschmuggelt werden könnten, aber in Wirklichkeit dauerte es etwa 10 Jahre, bevor wir einen nennenswerten Zustrom dieser Waffen sahen, denn in den ersten Jahren nach einem Konflikt fühlen sich die Bewohner oft unsicher und wollen diese Waffen behalten, weil sie sich schützen wollen.“
Laut Nils Duquet ist die Situation in der Ukraine ähnlich und könnte, nachdem Ende des Krieges, zur Gefahr für ganz Europa werden. Auch die Mitgliedsstaaten der EU sind alarmiert und versuchen Strategien zu entwickeln, um eine Situation wie nach den Balkankriegen zu verhindern. Dies geht aus einem Dokument hervor, das dem SWR vorliegt. Darin heißt es, dass das Thema zwar mit Vorsicht diskutiert werden müsse, um Russland keine Möglichkeit für Desinformation zu liefern, man die Gefahr aber erkenne und handeln müsse. In dem vertraulichen diplomatischen Bericht der ständigen Vertretung der Bundesregierung in Brüssel an das Auswärtige Amt vom Februar, warnen Frankreich und die Grenzschutzagentur Frontex nicht nur vor dem Schmuggel von Klein- und Leichtwaffen, sondern auch vor dem Handel mit tragbaren Luftabwehrsystemen, sogenannten manpads. Weiter heißt es, dass die Mitgliedsstaaten frühzeitig Präventivmaßnahmen etablieren und Strukturen aufbauen wollen, um den Schmuggel und Handel mit Kriegswaffen zu verhindern. Derzeit gäbe es noch keine Erkenntnisse zu steigenden Fallzahlen, was aber nicht verwunderlich sei, da der Konflikt noch anhalte. Ein erster Schritt der Prävention sei es, die Rückverfolgbarkeit von Waffen und Waffenteilen auszubauen.
Eine der größten Herausforderungen wird es sein die Waffen, die in den ersten Wochen des Krieges durch staatliche Stellen an Zivilisten verteilt wurden, nachzuverfolgen. Für Nils Duquet ist die nachträgliche Registrierung dieser Waffen, einer der wichtigsten Bausteine, um illegalen Waffenhandel in Zukunft zu verhindern: „Es ist sehr wichtig, dass wir so schnell wie möglich mit dem Registrierungsprozess der Waffen beginnen. Wir sollten der ukrainische Gesellschaft sofort sagen: Ihr könnt viele Waffen behalten, aber nur solange wir wissen, wo sie sind. Das wäre ein entscheidender erster Schritt.“
Austausch von Daten wichtiger Baustein, um Schmuggel zukünftig zu verhindern
Die Diplomaten aus Brüssel beschreiben in dem Dokument, dass die frühe und konsequente Registrierung von Waffen und der Austausch von Ermittlungsergebnissen wichtig sei. Zwischen Europol, der Ukraine und dem angrenzenden Moldawien finde bereits ein Austausch statt, der ausgebaut werden müsse. Weiter heißt es, dass Europol Personal in die moldawische Grenzregion entsendet habe. In der Hauptstadt Chişinău unterstützten die Beamten auch den im Juli 2022 eingerichteten Security Hub.
Doch die Ermittlungen in Moldawien könnten nur begrenzt unterstützt werden, da der Informationsfluss spärlich sei. Mit der Ukraine gebe es laut dem Papier bereits eine gute Zusammenarbeit. In der Unterrichtung heißt es, es seien rund 360.000 Datensätze zu verlorenen und gestohlenen Waffen zur Verfügung gestellt worden, rund eine Million weitere Datensätze seien angekündigt.
Laut einem deutschen Ermittler, mit dem der SWR sprechen konnte, handele es sich bei den übermitteln Informationen, um Klein- und Stichwaffen, die bereits vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine als verschwunden galten.
In einer Analyse des Schweizer Forschungsprojekt Small Arms Survey für das Auswärtige Amt hieß es schon 2017, dass nach dem Beginn der militärischen Aggression in der Ukraine im Jahr 2014 Gruppen und Einzelpersonen einige der staatlichen Waffen- und Munitionslager in der Ost- und Westukraine sowie auf der Krim geplündert haben. Die Autoren schreiben, dass Schätzungen zufolge zwischen 2013 und 2015 300.000 Kleinwaffen und leichte Waffen verschwanden und diese außerhalb der staatlichen Kontrolle weitverbreitet wurden und teilweise in die Hände von Kriminellen gelangten. Nur 4000 der verschwundenen Waffen wurden wieder gefunden, heißt es in dem Bericht. Trotz der großen Mengen an illegaler Munition, die nach 2015 in der Ukraine zirkulierten, blieb der Schmuggel in die Nachbarländer und in andere europäische Länder gering, was auf die Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden, aber möglicherweise auch auf die anhaltende Nachfrage nach Kleinwaffen im Land zurückzuführen sei, schreiben die Autoren.
Trotz dieses Problembewusstseins und der bereits ergriffenen Maßnahmen bleibt die Bedrohung bestehen, dass auch Waffen aus den aktuellen westlichen Waffenlieferungen in falsche Hände geraten. Die schiere Menge der gelieferten Waffen - darunter Zehntausende von schultergetragenen Javelin- und Stinger-Raketen, tragbare Abschussgeräte und Raketen stelle eine praktisch unüberwindbare Herausforderung für die Nachverfolgung jedes einzelnen Stücks dar, warnen Experten.
Es bestehe kein Zweifel daran, dass die Ukraine uneingeschränkt kooperiere, um die Buchführung über die an die Ukraine gelieferten Waffen sicherzustellen, sagt der Abrüstungsexperte Nikolai Sokov, Experte am Zentrum für Abrüstung in Wien. Dennoch sei die Buchführung und die Nachverfolgung für große Systeme wie Panzer, HIMARS-Raketensysteme und Haubitzen einfacher. Bei kleineren Waffen, wie Granatwerfern, Stingers und ähnlichen Systemen, sei dies wesentlich schwieriger. In intensiven Konflikten wie dem in der Ukraine würden Waffen fast so schnell eingesetzt, wie sie geliefert werden, das mache die Nachverfolgung von tragbaren Raketensystemen und anderen tragbaren Waffen erheblich schwieriger, sagt Sokov. Weiter sagt der Experte dem SWR, dass die Buchführung über die Munition "nahezu unmöglich", sei. „Im Grunde muss man sich darauf verlassen, dass die Ukrainer ihr Land verteidigen wollen und keine Waffen verschwinden lassen, die zum Krieg gegen Russland beitragen könnten“.