Brinkbäumers und Lambys Zehnpunkteplan für die USA
Kommt Einsicht, bevor es zu spät ist?
Unsere Recherchen und unsere amerikanische Reise endeten im Herbst 2020. Wir diskutierten transatlantisch, via FaceTime und Zoom. Nach moderner journalistischer Lehre sollte nach Analyse und Kritik das Positive folgen.
Was jetzt zu tun ist? Ein Zehnpunkteplan für die Rettung der Vereinigten Staaten.
Oder auch: das Regierungsprogramm für die ersten hundert Tage des 46. Präsidenten der USA.
Glauben wir aber selbst daran? Sagen wir es so: Es wäre, mit ein wenig Einsicht und Menschenverstand, gar nicht so schwierig.
Wie könnte ein Rettungsplan aussehen?
1. Die USA brauchen eine Rückkehr zu demokratischen Prinzipien, und das heißt: Politiker und Politikerinnen, Medien und der Rest der Gesellschaft müssen alles tun, was sie nur tun können, um faire Wahlen mit maximaler Wahlbeteiligung zu bewirken. Sie sollten aus dem Wahltag einen arbeitsfreien Feiertag machen, die Briefwahl landesweit erleichtern, das Wahlrecht für Minderheiten, ehemalige Häftlinge inklusive, ausbauen, und nach der Wahl jedes Ergebnis akzeptieren, da sie mit all diesen Schritten ohnehin anerkennen, dass politische Gegner lediglich andere Ziele und Haltungen haben, aber keine Todfeinde sind und auch die Vorstädte nicht niederbrennen.
2. Darum benötigen die USA natürlich eine Reform des Wahlrechts: Wer die meisten Stimmen hat, wird Präsidentin oder Präsident. Gerrymandering (das Zurechtschneiden der Wahlbezirke, um gewünschte Ergebnisse herbeizuführen) wird per Verfassungszusatz, also mit überwältigender Mehrheit im gesamten Kongress (sowie durch Ratifizierung durch mindestens drei Viertel der Bundesstaaten), verboten; eine unabhängige Kommission zieht die Grenzen der Wahlbezirke neu, fair und verbindlich.
3. Wahlgesetze dämmen den Einfluss von Geldgebern. Zugleich verpflichten sich beide Parteien, Experten zu vertrauen, Daten und Beweise ernst zu nehmen und auf dieser Grundlage politische Entscheidungen zu treffen.
4. Europäer sollten nicht versuchen, den USA schwedische oder deutsche Sozialsysteme aufzupfropfen; das nach europäischem Verständnis radikale Freiheitsdenken werden Teile der USA niemals aufgeben, und wieso auch? Die USA sind anders als Europa und stolz darauf. Ohne jede Solidarität allerdings, ohne ein bisschen mehr Gerechtigkeit werden nur der nächste Trump und die nächsten wütenden Anhänger kommen, gewiss auch die nächste Welle der Attentate und Ausschreitungen. Es braucht: mehr Steuergerechtigkeit, eine staatliche Krankenversicherung (ohne Abschaffung der privaten) und Schutz vor dem freien Fall im Moment der Arbeitslosigkeit.
5. Amerika braucht ein Medienrecht, das den Namen verdient. Natürlich sind Facebook, YouTube, Twitter oder TikTok die größten Medienunternehmen unserer Zeit, was denn sonst? Natürlich müssen sie Factchecking betreiben, verhetzende Werbung verbieten, Inhalte presserechtlich verantworten, wieso denn nicht?
6. Eine journalistische Selbstverpflichtung wird ebenso gebraucht. Unter drei, also off the record, sagten uns Dutzende amerikanischer Kolleginnen und Kollegen, dass die amerikanische Art der Kommerzialisierung des Journalismus zu einem degenerierten Journalismus geführt habe: der wahnhaften Fixierung, entweder durch Heroisierung oder aber durch Dämonisierung, auf wenige Figuren. Trump bringt Quote, das wissen alle, doch Quote allein ist kein journalistischer Maßstab. Die Medien der USA müssen zurückfinden zu ergebnisoffener Recherche, zu Vielfalt, zu internationaler Berichterstattung sowie dem Versuch, Probleme strukturell zu durchdringen und nicht durch Personalisierung zu boulevardisieren. Kostenlose Bildung, flächendeckend von Küste zu Küste, wird den Staat zwar viel Geld kosten, sich aber lohnen. Private Schulen, auch Institutionen wie Harvard, müssen deshalb nicht gleich geschlossen werden, denn das Gegenteil einer durch Apathie herbeigeführten Volksverdummung ist nicht Sozialismus.
7. Investitionen in Umwelttechnologie und intelligente Infrastruktur müssen sein. Will Amerika zum Mars, braucht es wirklich einen Rüstungsetat von 732 Milliarden Dollar pro Jahr? Oder will es eine moderne Gesellschaft werden, die dem 21. Jahrhundert gewachsen ist? An dieser Debatte und einer Verständigung über die wesentlichen strategischen Ziele wird das Land nicht vorbei kommen.
8. Um Rassismus zu überwinden, braucht es gleiche Chancen; und zugleich die Verständigung darüber, Einwanderungsland zu sein, denn dies ist die Idee der USA. Die Polizei benötigt nicht weniger, sondern mehr Geld, um in Brennpunkten sozialpolitische Aufträge erfüllen zu können.
9. Eine neue amerikanische Erzählung muss her, damit das Land sich nicht länger gegen sich selbst wendet. Vorschlag: America, land of the bright and creative – leading humanity through its most serious crisis.
10. Die USA brauchen Verbündete, um im Wettstreit der Systeme mit China zu bestehen, also eine Rückkehr in den Kreis westlicher Demokratien. Um welche drei, vier geopolitischen Themen geht es neben Klimakrise und Migration noch? Washington erklärt es seinen Partnern und bietet die Führung an.
Zehn Punkte, es wäre kein Hexenwerk. Und ja, wir glauben durchaus daran, da das Land sich oft gewandelt und damit immer wieder auch selbst überrascht hat. Ist aber der Leidensdruck heute schon groß genug? Kommt die Einsicht noch, ehe es zu spät ist?
Die Autoren
Klaus Brinkbäumer ging 2007 als Korrespondent des SPIEGEL nach New York. Von 2015 bis 2018 war er Chefredakteur des SPIEGEL. Er gewann u. a. den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und wurde 2016 Chefredakteur des Jahres. Er lebt in New York.
Stephan Lamby hat mit zahlreichen ARD-Dokumentationen das politische Deutschland abgebildet und wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und als Journalist des Jahres 2018. Ein Teil seiner Familie lebt in Amerika.