Mo., 04.06.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
China: Das Dorf der Langhaarigen
Im Südosten Chinas haben die Menschen die kraftvolle Natur seit Jahrhunderten eindrucksvoll geformt. So sind die berühmten Reis-Terrassen entstanden – und im Dorf Huangluo die märchenhaften Frisuren der Yao-Frauen. Xiangmei wird 18. Deshalb werden ihr die langen Haare abgeschnitten. So ist es Brauch bei der Yao-Minderheit in China. Nur einmal, vor zehn Jahren, war bislang eine Schere an ihren Haaren. "Natürlich werde ich traurig sein. Meine Haare habe ich so viele Jahre, sie sind ein Teil von mir. Es wird mir nicht leichtfallen, sie abschneiden zu lassen", sagt Pan Xiangemei.
Für die ganze Familie Pan ist es ein wichtiger Tag, ein besonderes Fest. Vater Pan Longen findet tröstende Worte für die Tochter: "Dass sie die Haare schneiden muss, ist einerseits traurig. Aber danach gilt sie als erwachsen. Und ihre Haare werden wieder lang werden. Schließlich sind wir das Langhaar-Dorf."
Ein Symbol für Reichtum
In der Region wird die Haar-Tradition der Yao noch aufrechterhalten. Der Knoten vor dem Kopf zeigt an, dass eine Frau verheiratet ist. Die Haare sind eine Touristenattraktion geworden. Nach dem 18. Geburtstag werden sie nie wieder geschnitten. Manche hier haben daher Haare auf dem Kopf, die sogar über zwei Meter lang geworden sind. Familie Pan betreibt eine Pension mit Restaurant, sie leben vom Tourismus. Tochter Xiangmei besucht ein Internat und ist nur ein Wochenende im Monat zu Hause. Das Erwachsenwerden-Ritual ist ihr wichtig, sie hätte auch nein sagen können. Mutter Liufeng legt Xiangmei für den Festtag die traditionelle Kleidung mit dem Schmuck hin. Dann bringt sie die eigene Frisur noch einmal in Form. Lange Haare sind für die Yao ein Symbol für Reichtum und ein langes Lebens – je länger die Haare sind, desto besser. Die Frauen schneiden nicht einmal die Spitzen.
Die Frisur hat es in sich. Zwei Zöpfe sind mit eingewickelt. Der eine stammt von letzten Haarschnitt als die Mutter selbst 18 wurde. Der andere besteht aus Haaren, die beim Kämmen ausgefallen sind. "Jedes einzelne Haar, das auf den Boden fällt, sammeln wir auf. Wir werfen keins weg, sondern binden sie zusammen und legen sie mit auf den Kopf", sagt Pan Liufeng.
Ob sie später das traditionelle Yao-Leben ihrer Mutter führen möchte, weiß Xiangmei noch nicht: "Wenn ich erwachsen bin, möchte ich mich erst mal umschauen. Die Welt ist schließlich groß, ich kann ja nicht nur an einem Ort leben".
Tourismus boomt
Vom traditionellen Leben in der Region nahm lange Zeit kaum jemand Notiz. Heute bringt der Alltag der Menschen der Region viel Geld ein, denn der Tourismus boomt. Wenn die Bauern ihre Felder beackern, bleiben sie nicht mehr unbeobachtet: Sogar eine Aussichtsplattform gibt es für die Besucher. Massentourismus zwischen Reis-Terrassen und langen Haaren. Das einst verschlafene Dorf Huangluo hat nun oft verstopfte Straßen. Xiangmeis Vater stört der Trubel nicht. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatten sie hier nicht genug zu essen: "Vor zehn Jahren hatten wir noch keine Touristen, das Leben war schwierig. Wir mussten weggehen und als Wanderarbeiter Geld verdienen. Aber jetzt ist der Tourismus entwickelt. In unserem Dorf geht es den Menschen viel besser.
Tägliche Haarshows: Die 80 Yao-Familien im Dorf werden an den Einnahmen beteiligt. Die Touristen können sogar beim Waschen zuschauen. Die Frauen haben eine eigene Mixtur entwickelt – sie basiert auf Reiswasser, wird als Wundermittel für schöne Haare angepriesen und als Souvenir-Shampoo verkauft. Die Touristen staunen. Die Haare bleiben bis ins hohe Alter pechschwarz, versichern die Yao-Frauen, graue Haare seien selten. Ausgewaschen werden die Haare im Bergfluss – aber nur für schöne Touristenfotos.
Ritual nur an einem Tag im Jahr
Xiangmei ist bereit, der Dorfplatz ist noch voller als sonst. Nur an einem Tag im Jahr nach dem Mondkalender gibt es das Ritual. Diesmal ist Xiangmei das einzige Mädchen im Dorf, dem die Haare abgeschnitten werden. Ein lokaler Yao-Priester beginnt mit der Zeremonie, die auch bedeutet, dass sie nun heiraten darf. Während die Mutter die Haare zum Abschneiden frei gibt, singen die Frauen des Dorfes im Yao-Dialekt. Dann kämpft sich eine Küchenschere durch das kräftige Haar. Den Zopf bewahrt die Mutter auf bis Xiangmei heiratet. Ein schwerer Abschied – vom Haar ihrer Jugend. Umringt von den vielen Touristen darf sie unter dem Schirm einen Moment alleine der verlorenen Pracht nachtrauern.Als es dann im Dorf etwas ruhiger wird, steht Xiangmei bei ihrer Familie, und kann wieder lachen. Sie muss zurück ins Internat. An die neue Frisur hat sie sich schnell gewöhnt: "Ich war schon traurig, aber jetzt bin ich wieder glücklich. Es war irgendwie unwirklich. Vor einer Minute war mein Haar noch da. Dann war es plötzlich weg. Als ich mir einen Zopf binden wollte, ist es mir erst richtig bewusst geworden, ich habe mich gefragt, wo sind meine Haare?"
Nun will sie die Aufnahmeprüfung für eine gute Uni schaffen, die Eltern stolz machen, vielleicht Lehrerin werden. Dann ein paar Jahre Großstadt, irgendwann kommt sie vielleicht wieder ganz zurück nach Huangluo – dem märchenhaften Langhaar-Dorf.
Autor: Mario Schmidt, ARD-Studio Peking
Stand: 03.08.2019 18:09 Uhr
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