So., 15.08.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Litauen: Machtspiel mit Migranten aus dem Irak
Eigentlich leben in Litauen die Menschen an der Grenze zu Belarus sehr beschaulich und ruhig. Doch seit einigen Wochen sorgen illegal Einreisende für Aufregung im Osten Litauens. Im Streit mit der EU hat der belarussische Präsident Lukaschenko die Einreise aus dem weitentfernten Irak erleichtert. So entstand eine neue Route, auf der Menschen von Bagdad über Minsk nach Litauen und damit in die EU kommen.
Meldung für den Vorgesetzten: "Heute ist bisher alles ruhig – noch!" Zydrunas Vaikasas, Chef der Grenzpolizei im Bezirk Poskonys, kontrolliert seine Patrouillen in diesen Tagen sehr genau. Über die Grenze hier sind in den vergangenen Wochen Tausende Migranten illegal in das EU-Land Litauen gekommen – auf der Suche nach einer neuen Heimat und einem besseren Leben: "Zur Zeit ändert sich alles permanent. Früher kamen die Migranten meistens nachts, jetzt beobachten wir illegale Gruppen am Tag und in der Nacht. Sie kommen auf der ganzen Strecke, die wir kontrollieren."
Menschen in der Grenzregion Litauens fühlen sich überrannt
Mitten im Wald, in der Nähe des Dorfes Rudninkai, liegt ein ehemaliges Militärgelände. Viele, die beim illegalen Grenzübertritt festgenommen wurden, sind hier gelandet. Abgeschottet vom Rest der Welt sind hier 800 Männer untergebracht, eingesperrt hinter einem Drahtzaun. Einfache Zelte, ein paar Toilettencontainer – deren Verstopfung in der Luft liegt – viel Frust hat sich in den vergangenen Tagen aufgebaut. Die Behörden haben den Notstand für Litauen ausgerufen.
12.000 Dollar habe einer der Männer aus dem Iran den Schleusern gegeben, seine gesamten Ersparnisse, erzählt er uns, als die Kamera aus ist: "Ich bin seit zehn Tagen hier, es ist sehr schlecht." Freiheit fordern sie. Unser Kamerateam sorgt für noch mehr Aufregung.
Völlig überrascht wurden die Menschen hier in der sonst so ruhigen Grenzregion zu Belarus. Auch in Rudninkai, dem Dorf in der Nähe des Lagers. Jetzt ist die Aufregung unter den Einwohnern groß, sie fühlen sich überrannt. Im Gemeindehaus organisieren sie den Widerstand gegen das Lager und vor allem gegen die Migranten: "Man muss verstehen, dass es um den Islam und Moslems geht. Wir leben hier mit einer anderen Religion, leben eine andere Kultur", versucht Gemeindevorsteher Genadi Baranovic zu erklären. Das beunruhigt die Menschen, besonders die Älteren, die die Nachkriegszeit erlebt haben.
Vorurteile gegen Fremde – Angst vor dem Unbekannten! Es fehlt in Litauen an Erfahrungen mit Migranten, die in so großer Zahl ins Land kommen. 680 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Litauen und Belarus. Eine vollständige Kontrolle ist unmöglich. Das weiß auch Oberstleutnant Vaikasas. Die Beamten schicken Migranten, die sie direkt an der Grenze erwischen, inzwischen wieder zurück. Das passiert auch mit Gewalt, auf Befehl des Innenministeriums. "Als erstes warnen wir sie, weisen darauf hin, dass es nicht legal ist, was sie tun. Wenn sie dann nicht umdrehen, haben wir den Befehl, sie mit Gewalt zurückzudrängen, aber, das will ich betonen, so gehen wir nur mit Männern um", erklärt Zydrunas Vaikasas von der Grenzpolizei Litauens. Mehr als 1.000 Männer sind in den vergangenen Tagen wieder zurück nach Belarus gedrängt worden. Und es kommt immer wieder zu befremdlichen Situationen. Bilder des litauischen Nachrichtenportals "15 Minuten" zeigen zwei Migranten zwischen den Grenzpfosten. Belarussische Milizionäre drängen sie offenbar, endlich rüber auf die andere Seite zu gehen. Aber offenbar aus Angst vor den litauischen Grenzpolizisten bleiben die beiden Männer im Niemandsland stehen. Wissen nicht, wohin! Unklar ist, wer genau diese Bilder gedreht hat.
Machtkampf zwischen Belarus und der EU
Zurück im Lager von Rudninkai: Es ist früher Nachmittag, als das Rote Kreuz die ersten Plastikflaschen mit Wasser verteilt. Kritisch beäugt, von den Sicherheitskräften, die das Camp und die Migranten bewachen. Mit ihrem fahrenden Behandlungszimmer ist eine Krankenschwester aus dem Gesundheitszentrum gekommen. Vor allem um die Folgen der kalten Nächte muss sich Schwester Anzelika jetzt kümmern: "Die meisten haben Erkältungen, Schmerzen in Hals und den Ohren, können nicht gut atmen, dann haben einige offene Wunden. Pro Tag haben wir knapp 30 Patienten. Sie bekommen meistens Schmerztabletten, das ist, was wir tun können." Und: Ihr Diensthandy ist bei vielen Patienten gefragt, die wenigstens kurz mit ihren Angehörigen sprechen wollen. Denn bei der Registrierung der Männer wurden die meisten Handys einbehalten. Das sorgt schon für Ärger: "Sie haben mir alles weggenommen, meine Dokumente, und vor allem unsere Handys. Vor allem die Handys brauchen wir, um unseren Familien zu sagen, dass wir wir okay sind", sagt ein Migrant.
In der Nacht eskaliert die Wut im Camp. Es kommt zu einem spontanen Sitzstreik. Über das Internet werden Bilder voller Verzweiflung verbreitet.
Derweil ziehen litauische Soldaten Stacheldraht-Zäune hoch, um die Grenze zu Belarus effektiver zu sichern. Das Verhältnis zwischen Litauen und Belarus ist inzwischen feindselig. Das bestätigt auch Grenzpolizist Zydrunas Vaikasas: "Es ist schwierig, denn an einer Grenze treffen nun mal zwei Staaten aufeinander. Um eine Grenze zu schützen, müsste man effektiv zusammenarbeiten, aber im Moment gibt es keinerlei Zusammenarbeit."
Und dann raschelt es plötzlich im Gehölz auf der anderen Seite. "Wir werden beschattet", erklärt Vaikasas. Beschattet von belarussischen Sicherheitskräften macht er sich wieder auf den Weg, auf seine Patrouille entlang der Grenze.
Die Menschen hier sind in einen Machtkampf geraten – zwischen Belarus und der EU.
Autor: Clas Oliver Richter, ARD-Studio Stockholm
Stand: 17.08.2021 17:04 Uhr
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