So., 18.04.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Polen: Austritt aus der Istanbul-Konvention
Am 30. März hat die nationalkonservative Regierung im polnischen Parlament eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, um aus der Istanbul-Konvention auszutreten. Vor zehn Jahren hatten 45 Staaten den völkerrechtlich verbindlichen Vertrag unterschrieben, der Frauen vor allem vor häuslicher Gewalt schützen soll. 34 Staaten haben die Istanbul-Konvention ratifiziert. Vor einigen Wochen hat die Türkei diesem Vertrag verlassen. Sollte Polen austreten, wäre es das erste EU-Land, in dem sich Frauen nicht mehr auf die "Istanbul-Konvention" beziehen könnten. Vor allem rechte und nationalistische Organisationen treiben den Austritt voran. Frauenverbände wehren sich dagegen und schlagen Alarm: Mit einem Austritt aus der Istanbul-Konvention würde sich Polen endgültig von den Werten der EU verabschieden.
"Häusliche Gewalt hat ein Geschlecht"
Nach der Hochzeit begann für sie die Hölle: Inga Lipinska hatte ihren Traummann gefunden, dachte sie. Nach außen eine glückliche Ehe – doch das war nur Fassade. Ihr Mann wurde aggressiv, beschimpfte sie erst nur, dann kamen die Schläge. Zuletzt sperrte er sie regelrecht in ihrer eigenen Wohnung ein: "Er kam nachts zurück, sagte nur: 'Steh auf, Du Hure!' Und prügelte wild auf mich ein. Ich habe meinen Kopf mit den Händen geschützt und gebetet, dass ich das bis zum Morgen überlebe. Danach hatte ich so schlimme Kopfverletzungen, dass ich mich selber im Spiegel nicht mehr erkannt habe.
Das ist 20 Jahre her – doch überwunden hat sie es bis heute nicht, auch wenn sie längst von ihrem Peiniger getrennt ist und jeglichen Kontakt abgebrochen hat. Sie will anderen Frauen helfen. Seit drei Jahren arbeitet sie im Zentrum für Frauenrechte und berät ehrenamtlich Frauen, die ähnliche Gewalt ertragen mussten. Die polnische Gesellschaft macht es Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, sehr schwer: "Häusliche Gewalt hat ein Geschlecht. Sie geht in den allermeisten Fällen von Männern aus und es sind meistens die Frauen und Kinder, also die schwächeren Personen, die leiden. Noch gilt in Polen die Istanbul-Konvention, zumindest theoretisch. Aber wenn das nicht mehr so sein sollte, dann befürchte ich, dass Opfer ganz allein gelassen werden", sagt Inga Lipinska.
Der Sejm hat sie die Istanbul-Konvention ratifiziert – ein Übereinkommen des Europarates, dass verbindliche Rechtsnormen bei Häuslicher Gewalt festlegt – und so vor allem Frauen vor Übergriffen schützen soll. Doch seit Monaten fordern Teile der nationalkonservativen Regierung um Justizminister Ziobro, die Istanbul-Konvention wieder zu verlassen. Unterstützung gibt es vor allem von konservativen Christen, die für den Ausstieg ein Bürgerbegehren ins Parlament einbrachten. "Die Istanbul-Konvention liefert keinen Mehrwert zum Schutz der Schwachen vor häuslicher Gewalt, zum Schutz eines Kindes, einer Frau oder einer anderen gefährdeten Person. Weder die Einführung dieses Übereinkommens noch seine Aufkündigung ändern etwas an unserem Straf- oder Zivilrecht", erklärt Marek Jurek (Christlich-Sozialer Kongress).
Austritts-Antrag von fundamental-christlicher Stiftung Ordo Iuris
Die Opposition ist empört. Bei der Debatte des Parlaments protestieren ihre Abgeordneten gegen einen möglichen Ausstieg aus der Istanbul-Konvention. Seit Monaten schon gehen Tausende Frauen so wie hier in Warschau auf die Straße. Sie protestieren dagegen, dass die nationalkonservative Regierung ihre Rechte Stück für Stück beschneidet. Zuletzt war ein umstrittenes Gesetz in Kraft getreten, dass Abtreibungen in Polen praktisch vollständig verbietet.
Den Austritts-Antrag aus der Istanbul-Konvention hat die fundamental-christliche Stiftung Ordo Iuris verfasst – eine mächtige Organisation von Juristen, die auch hinter der Verschärfung des Abtreibungsrechts steht. Polen soll möglichst bald austreten, fordern ihre Vertreter. "Dafür sprechen alle Zahlen und Untersuchungen, dass der wirksamste Schutz vor Gewalt im Rahmen einer intakten Familie besteht. Und wenn wir vernünftige Regelungen haben wollen, müssen wir auf die tatsächlichen Ursachen schauen, also: Alkoholmissbrauch, die Steigerung des Gewaltpotenzials und Degradierung der Frau zum Objekt in der medialen Darstellung, auch der weite, unkontrollierte Zugriff von Teenagern auf brutalste Pornographie" sagt Agnieszka Jacob von Ordo Iuris.
Gleichstellung von Frau und Mann nicht gewollt
Für die erz-konservativen Juristen zersetzt die Istanbul-Konvention familiäre Beziehungen. Deshalb hat Ordo Iuris ein eigenes Konzept vorgelegt, das auf das traditionelle Familien- und Rollenbild von Mann, Frau und Kindern aufbaut. Ein großer Rückschritt für alle Frauen im Land, befürchtet Urszula Nowakowska, Leiterin des Zentrums für Frauenrechte: "Das Projekt von Ordo Iuris zeigt doch sehr deutlich, wie unterschiedlich die Hilfe zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt gegen Frauen verstanden wird. Der wesentliche Unterschied ist die Benennung der Ursachen der Gewalt: Sie wollen nicht sehen, dass ein Weg zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, die Gleichstellung von Frau und Mann ist. Davon ist in der Istanbul- Konvention doch klar die Rede.
Inga Lipinska sieht die polnische Gesellschaft auf dem Weg zurück in eine düstere Vergangenheit. "Die konservative Rechte, die uns regiert, hat so eine Vision der Frau, dass sie leidet, Männern dient, keine eigene Meinung hat. So ist die Weltordnung und so soll sie auch sein." Sie wird ihre traumatischen Erlebnisse nie vergessen und jetzt hat sie Angst, dass die Frauen in Polen zukünftig noch mehr allein gelassen werden.
Autoren: Olaf Bock/Dirk Lipski, ARD-Studio Warschau
Stand: 18.04.2021 14:06 Uhr
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