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USA: 20 Jahre nach 9/11 –Afghanisches Leben in Amerika

USA: 20 Jahre nach 9/11 –Afghanisches Leben in Amerika | Bild: IMAGO / PCN Photography

20 Jahre ist es her, dass Al Kaida-Terroristen vier Flugzeuge kaperten und für den schlimmsten Anschlag auf US-amerikanischem Territorium sorgten. Kurz danach marschierten US-Truppen in Afghanistan ein, um die Taliban und Al Kaida zu besiegen. Vor einigen Wochen endete der Krieg in Afghanistan mit einer Niederlage der westlichen Staaten. Die Gedenkfeiern zu den Anschlägen vom 11. September stehen deshalb in diesem Jahr unter besonderen Vorzeichen. Viele Afghanen, die in den USA ein neues Zuhause gefunden haben, suchen weiterhin ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft.

Plötzliche Anfeindung nach Anschlägen

Frau im Interview.
Nadia Hashimi hat wurde nach den Anschlägen 2001 in den USA angefeindet. | Bild: NDR

"Für mich ist der 11. September ein Datum. Ich bin mir nicht sicher, was es genau bedeutet." Zayla ist zehn Jahre alt. Der 11. September ist für sie ein Tag wie jeder andere. Für ihre Mutter Nadia Hashimi ist das ganz anders – der Tag änderte ihr Leben: Nadias Eltern kamen in den 1970er-Jahren aus Afghanistan, sie ist hier geboren. Nach den Anschlägen wurde Nadia plötzlich angefeindet: "Ich war geschockt. Das war mir vorher noch nie passiert. Und es hat auch einen Moment gedauert, bis ich kapiert habe, warum sie uns beschimpften. Wir waren da nicht mehr ein Volk, das getroffen worden war. Plötzlich gab es ein "Die" und ein "Wir"."

Heute packt Nadia gemeinsam mit ihren Kindern Kleidung ein. Für diejenigen, die gerade aus Afghanistan in die USA geflohen sind. "Wenn ich diese Kinder sehe, die ankommen – die sehen aus wie meine. Wir suchen Kleidung für sie zusammen, in der Hoffnung, dass es ihnen hilft, sich wohl zu fühlen. Dass sie wissen, dass da Menschen sind, die sich um sie kümmern.“

Nadia sieht sich als Vermittlerin zwischen den Kulturen. Sie schreibt Romane, die in 16 Sprachen übersetzt wurden und gründete eine Stiftung. Als Ärztin berät sie Kollegen und Kolleginnen im Umgang mit den Neuankommenden. Und auch mit Geflüchteten selbst steht Nadia in Kontakt: "Sie sorgen sich um ihre Familien zu Hause. Das ist stärker als die Freude darüber, dass sie es geschafft haben. Die Erleichterung wird überschattet vom Gedanken an das, was sie zurücklassen mussten."

Weg zurück in die USA: ein Albtraum

Familie am Tisch.
Wais Aria und seine Familie wurden aus Kabul ausgeflogen. | Bild: NDR

Zehntausende Afghanen sind in den vergangenen Wochen in die USA ausgeflogen worden. Ein paar von ihnen treffen wir am Washingtoner Flughafen. Niemand möchte mich uns sprechen. Zu groß die Angst, Verwandte zuhause in Afghanistan in Gefahr zu bringen.
Wie traumatisierend die Flucht dieser Familien war, kann Wais Aria gut nachvollziehen: Er saß mit seiner Familie selbst in einer der US-Frachtmaschinen, 450 Menschen dicht an dicht gedrängt. Wais und seine Familie besuchten Verwandte in Kabul, als die Stadt fiel. Der Weg zurück in die USA: ein Albtraum. Tagelang harrten sie im Gedränge um den Flughafen aus. "Das war schrecklich. Eine meiner Töchter wurde ohnmächtig. Ich habe versucht, sie und die anderen abzuschirmen, meine Familie zu beschützen, damit sie nicht niedergetrampelt werden."

US-Abzug: Afghanen bitter enttäuscht

Wais jüngster Sohn, Mohammed, ist in den USA geboren, der Rest der Familie kurz zuvor hierher geflohen. Als die Amerikaner 2001 in Afghanistan einmarschierten, war Wais 17. Er erinnert sich: "Plötzlich gab es überall Musik – in Autos, Geschäften, Restaurants. Man spürte die Veränderung sofort.“ Der 11. September veränderte also auch sein Leben – zum Positiven. Mit den Amerikanern kam die Hoffnung. Wais konnte Medizin studieren, gründete eine Menschenrechtsorganisation. Nun, 20 Jahre später, sind die USA abgezogen – und Wais ist bitter enttäuscht: "Vielleicht haben die Amerikaner etwas für sich selbst erreicht. Fühlen sich sicherer, empfinden die Taliban nicht mehr als Bedrohung. Aber für die Afghanen? Da sind wir genau dort, wo wir vor 20 Jahren waren."

So wie Wais denken viele in der Afghanischen Gemeinde in Virginia, eine der größten in den USA. Afghanische Geschäfte, afghanische Kulturzentren – die neuen Flüchtlinge werden von einer großen Gemeinschaft empfangen. "Wir haben hier alles für die Neuen – sie werden nichts vermissen, das heißt: was Nahrungsmittel betrifft! Da können wir ihnen alles bieten. Aber natürlich können wir ihnen nicht die Heimat ersetzen" ,sagt Rafi Habibi, der seit 27 Jahren einen afghanischen Supermarkt betreibt.

Auch Nadia und ihr Vater Said kaufen gelegentlich hier ein. Said kam ebenfalls zu einer Zeit, in der es noch kein afghanisches Netzwerk in den USA gab. Heute fühlen sich beide verantwortlich dafür, den Neuankommenden zu helfen.
In diesem Jahr schaut Nadias Familie gemeinsam die Gedenkfeiern zum 11. September. Damit auch die Kinder lernen, was an diesem Tag geschah. Vieles habe sich seitdem verbessert, sagt Nadia. Und dennoch sei noch lange nicht alles gut: "Es gibt immer noch Leute – auch Politiker – die erzählen, Muslime würden am 11. September feiern. Solche Vorwürfe bringen uns direkt zurück in diese schreckliche Zeit." Sie werde sich weiter engagieren, sagt Nadia – damit ihre Kinder sich auch künftig ganz selbstverständlich als Teil der amerikanischen Gesellschaft begreifen können.

Autorin: Kerstin Klein, ARD-Studio Washington  

Stand: 12.09.2021 19:50 Uhr

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