So., 18.09.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Angst vor einem Winter ohne Heizung und Wasser
Seit Monaten wird Charkiw von russischen Raketen beschossen. Immer wieder. Besonders heftig trifft es die Wohnhäuser im Stadtteil Saltivka, im Osten. Hier im ersten Stock wohnt Leonid. Seine Wohnung ist durch die Einschläge demoliert. Wände, Möbel, Kühlschrank – alles zerstört. Weil die Fensterscheiben raus sind, zieht der Wind mitten durch. Jetzt versucht er sich auf den Winter vorzubereiten: "Ich werde mir was überlegen, werde mich umschauen, wie es für mich gut und bequem ist. Vielleicht kaufe ich mir ein Stück Blech, befestige das hier, mache ein Loch rein und stelle einen Holz-Ofen auf. Der Vorteil ist, dass man darauf kochen kann – und es ist warm."
So wäre Leonid weniger abhängig von der Stromversorgung. Denn als vor einer Woche ein Kraftwerk bei Charkiw durch einen russischen Angriff getroffen wird, fällt auch bei ihm der Strom aus. Über Stunden liegen Teile des Stromnetzes in der Ostukraine lahm. Die Versorgung mit Wasser und Strom ist in dieser Zeit nicht möglich. Selbst die U-Bahn der Millionenstadt steht still. "Hunderttausende Ukrainer fanden sich im Dunkeln wieder – ohne Strom. Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, kommunale Infrastruktur. Russische Raketen treffen genau die Objekte, die nichts mit der Infrastruktur der Streitkräfte unseres Landes zu tun haben", sagte UKraines Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Russische Angriffe auf die kritische Infrastruktur nehmen zu
In Präsident Selenskyjs Heimatstadt Kryvyi Rih wurde in dieser Woche unter anderem ein Staudamm schwer beschädigt. Einige Straßen wurden überflutet. Die Trinkwasserversorgung der 150.000-Einwohner-Stadt war zu großen Teilen ausgefallen. Russische Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Ukraine nehmen zu. Viele deuten das als Racheakt für die jüngsten militärischen Erfolge der ukrainischen Armee. Russlands Präsident Wladimir Putin gibt die Angriffe indirekt zu – und droht: "Kürzlich haben die russischen Streitkräfte ein paar empfindliche Schläge durchgeführt. Sagen wir, sie waren eine Warnung. Wenn sich die Situation so weiter entwickelt, dann wird die Reaktion ernster."
Den Menschen in der Ukraine steht der schwerste Winter seit der Unabhängigkeit 1991 bevor, fürchtet die Regierung. Auch deshalb laufen derzeit zahlreiche Wartungsarbeiten, wie an einer Trafostation im Kiewer Stadtviertel Solomjanski. Das Team der örtlichen Stromnetze macht die Hauptstadt fit für die kalte Jahreszeit. Die möglichen Angriffe, auch auf ihr Stromnetz, nehmen sie sehr ernst: "Wenn dieser Beschuss andauert, sind Unterbrechungen der Stromversorgung von Anwohnern und anderen Verbrauchern möglich. Aber wir bereiten uns auf solche Szenarien vor. Wir haben Pläne entwickelt, die mit der Stadtverwaltung, dem zentralen Energiesystem, abgestimmt sind. Und wenn das irgendwo passiert, erledigen wir unseren Job", erklärt Wolodymyr Tolotschko, Technischer Leiter des Kiewer Stromvertriebsnetzes.
Energieverbrauch massiv gesunken
Der Energieverbrauch im Land ist durch den Krieg massiv gesunken: Die Industrie steht zu großen Teilen still, Millionen Menschen sind ins Ausland geflüchtet. Dadurch verbraucht die Ukraine aktuell im Durchschnitt 40 Prozent weniger Strom und Gas, sagen Energieexperten. Die Ukraine sei für den Winter gewappnet. "Wir haben genügend Gasreserven, genug Kohle. Und es besteht sogar die Möglichkeit, einen Gewinn aus der Stromerzeugung zu erzielen. Wir können gut durch diesen Winter kommen. Aber nur, wenn es keine Raketenangriffe auf unsere Infrastruktur gibt – das heißt Heizkraftwerke, Elektrizitätswerke, auch Kernkraftwerke. Wenn sie Ziele solcher Einschläge werden, fallen sie einfach aus", sagt Jurij Koroltschuk vom Institut für Energie-Strategien.
Auch deshalb ruft die Regierung die Menschen auf, sich selbst auf den Winter vorzubereiten. Lucia Blystavytsja läuft die Zeit davon. Vor einem halben Jahr traf ein russischer Einschlag mitten in ihr Haus, in der Nähe des Flughafens Hostomel. Sie und ihre Familie haben nur überlebt, weil sie auf der Flucht waren. "Anfangs habe ich viel geweint. Das war sehr schwer für mich. Mein 14-Jähriger Sohn ist morgens aufgestanden und hat gesagt: 'Mutti, weine nicht, ich baue dir dein Haus wieder auf.'" Gerade wohnen sie übergangsweise bei ihren Nachbarn – doch in zwei Wochen müssen sie in das kahle Haus ziehen, das die Familie mit Unterstützung von Ehrenamtlichen selbst wieder aufbaut. Was fehlt ist eine neue Heizung. "Wir brauchen einen Boiler. Entweder mit festen Brennstoffen oder elektrisch. Boiler oder Elektro-Boiler, weil wir kein Gas haben und es auch nicht erneuert wird. Das heißt entweder oder – aber beides kostet Geld. Und für Menschen, die alles verloren haben, ist das sehr unrealistisch." Lucia überlegt einen Kredit aufzunehmen, damit ihre Familie nicht frieren muss.
Der Krieg hat den Menschen in der Ukraine jede Sicherheit genommen. Viele Haushalte haben zu wenig Geld. Mit diesen Ungewissheiten gehen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in die Wintermonate.
Autor: Vassili Golod, ARD-Studio Kiew
Stand: 18.09.2022 18:59 Uhr
Kommentare