So., 07.08.16 | 19:20 Uhr
Das Erste
Afghanistan – Kinder zwischen Krieg und Terror
Wir fahren an den Stadtrand von Kabul. Ein Ort, der wirkt wie ein Gefängnis. Eingesperrt sind Kinder und Jugendliche. Ihre Gesichter dürfen wir nicht zeigen. Auch nicht den Stacheldraht auf den Mauern. Nicht wenige wurden von Terroristen geködert. Sollten sich als Attentäter in die Luft sprengen. 130 Kinder sind es landesweit. Hier sollen sie umerzogen werden. Er ist der jüngste, zwölf Jahre alt. Die Taliban entführten ihn. "Sie haben uns gesagt im Koran steht: Du kommst sofort in den Himmel. Wenn du die Ungläubigen tötest."
Eine verloren gegangene Kindheit
Die Taliban machten aus ihm einen Selbstmordattentäter. "Sie gaben mir drei Spritzen. Und sagten, sie schicken mich zu den Ungläubigen. Sie gaben mir die Sprengstoffweste. Sagten, ich solle mich in die Luft sprengen. Aber als ich ankam, sah ich die Leute beten. Und da habe ich denen alles erzählt." Er begriff in diesem Moment, dass die Menschen, die er töten sollte Muslime sind. Deswegen gab er auf. Das heißt aber nicht, dass er anders denkt. Ausländer würde er immer noch töten. "Verschwinden die Amerikaner nicht aus Afghanistan. Zwingen wir sie. Mit Selbstmordattentaten."
Kinder werden schnell hineingezogen in den Krieg. Auch Niazwali ist zwölf. Er musste mit seiner Familie fliehen. Und jetzt sucht er, was brauchbar ist. Im Müll. Dabei sollte er lieber schlafen. Denn gerade erst geht die Sonne über Kabul auf. "Mir geht es nicht gut. Ich bin so müde. Aber ich muss arbeiten." Das Metall, das er findet, verkauft er. Dann besorgt er Brot für seine Familie. Sein Vater hatte einen Unfall. Liegt seit Monaten im Krankenhaus. Auf einmal ist Niazwali der Große, der Erwachsene. Die Kindheit ist so gut wie vorbei. "Klar ist das ein schlechter Job. Meine Mitschüler würden den Müll nicht einmal anfassen. Sie hänseln mich, weil ich das tue. Aber ich bin arm", sagt Niazwali.
Ein Leben ohne Heimat
Am Stadtrand hausen sie. Kinder wie Niazwali werden hineingeboren. In ein Leben ohne Heimat. Auf der Flucht. Im eigenen Land. Er kümmert sich um die fünf Geschwister. Sie alle hungern, wenn er kein Geld verdient. Dann muss Niazwali los zu Schule. Aber nicht gleich. Ausgerechnet er verschenkt noch ein wenig Glück. Sie haben einen kleinen Zirkus. Nicht weit entfernt von seiner Hütte. Und Niazwali ist der Beste. Klar, dass er den anderen die Tricks zeigt. "Sie freuen sich, wenn sie was lernen. Es ist doch besser, wenn sie zum Zirkus gehen. Und nicht auf der Straße mit anderen kämpfen."
Niazwali hat heute Prüfungen in der Schule. Zum Vorbereiten blieb keine Zeit. Er ist nicht der Einzige, der neben der Schule noch arbeiten muss. Jetzt geht es darum, so gut wie möglich zu zeichnen. Wie fast alle afghanischen Jungs träumt Niazwali davon Arzt oder Ingenieur zu werden. Ob er das schafft? Er wirkt müde, unruhig. "Ich mach auf jeden Fall weiter mit der Schule. Im letzten Jahr bin ich durchgefallen. Aber mein Vater sagte mir: Gib nicht auf. Früher hatte ich Angst. Vor den Prüfungen. Davor, dass mich der Lehrer zur Tafel ruft. Ich war dann drei Jahre nicht mehr in der Schule."
Jeder kann beim Zirkus mitmachen
Am besten kann er Kunststücke. Niazwali holt sich Kraft im Kinderzirkus von Kabul. Eine kleine friedliche, eingezäunte Welt. Wie er das genießt, verrät sein Gesicht. "Ja, das ist schon schwer. Aber nicht für mich. Ich hab das so oft gemacht." 2002 haben sie den Zirkus gegründet. Da war Niazwali noch gar nicht geboren. Sie wollen Konflikte lösen, indem sie jonglieren, lachen. Und das weiter in die Welt tragen. "Jeder kann beim Zirkus mitmachen. Das kostet auch nichts. Also wer nicht kommt, ist selber schuld", sagt Niazwali.
Niazwalis Eltern wussten erst nicht, was das soll mit dem Zirkus. Denn ihr Sohn muss durch die halbe Stadt, wenn er vom Training kommt. In Kabul kann jeder schnell zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Auch Niazwali war einmal ganz nah, als sich ein Terrorist in die Luft sprengte. "Ich hatte so eine Angst und bin nach Hause gerannt. Sah Körperteile herumliegen und den toten Attentäter. Das war grausam. Ich konnte zwei Tage lang nichts essen."
Die Bilder loswerden. Das geht am besten im Zirkus. Heute treten sie auf. Einfach herumblödeln? Spielen? Das geht viel zu selten. Kinder in Afghanistan wirken viel älter, viel ernster als anderswo. Sie kämpfen gegen den Wind. Aber egal. Die Kinder saugen die Lebensfreude auf. Mehr braucht es gar nicht. Den Jungs hinter Mauern und Stacheldraht bleibt das verwehrt. Ihnen wurde die Kindheit gestohlen. Fußball? Davon will er nichts hören. "Die Amerikaner sollen gehen. Kinder, die Fußball spielen, haben keine Sympathie für ihr Land", sagt ein Junge.
Autor: Gabor Halasz/ARD Studio Neu Delhi
Stand: 15.08.2016 12:54 Uhr
Kommentare