Mo., 29.02.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Algerien: Ein gelähmtes Land – zwischen Armut, Arbeitslosigkeit und Extremismus
Wer nach Algier will, kommt an einer großen Baustelle vorbei. Hier wird die größte Moschee der Welt errichtet, mit einem 260 Meter hohen Minarett. Mehr als eine Milliarde Euro soll das Prestige-Projekt des schwer kranken Präsidenten Bouteflika kosten. "Anstatt einer Moschee sollten sie doch Schulen, Krankenhäuser und Fabriken bauen. Die Menschen wollen Arbeit und keine Almosen", sagt Tarek Saidji. Er bekommt sich vor Empörung kaum ein. In Algeriens Hauptstadt ist die Stimmung trüb – Frust und Enttäuschung sind allgegenwärtig. Auf dem Markt erzählt uns Tarek, dass er nicht mehr als politischer Aktivist unterwegs ist – der Alltag sei schwierig genug.
Algerien, das große Erdgas- und Ölvorkommen hat, konnte sich bislang den sozialen Frieden mit Subventionen und Wohltaten erkaufen. Doch nun fällt der Ölpreis in den Keller, alles wird teurer. "Wir müssen den Gürtel immer enger schnallen, aber das sollten mal die Herren in der Regierung tun, die verdienen doch genug. Möge Gott uns gnädig sein", sagt ein Mann auf dem Markt. Ein anderer fügt hinzu: "Ich habe die Nase voll von denen da oben, mir reicht es! Weißt Du, ich ziehe es vor, zu sterben, als so weiterzuleben."
"Die Gesellschaft ist seit vielen Jahren tot"
In einem leeren Büro schaut sich Tarek mit einem Freund Fotos von früheren Protestaktionen an – sie alle sind dabei ein hohes Risiko eingegangen. Denn Demonstrationen sind in der Hauptstadt Algier generell verboten, die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Algerier nehmen kein Blatt vor den Mund – aber sie müssen damit rechnen, dafür verhaftet zu werden und im Gefängnis zu verschwinden. "Für viele Menschen in diesem Land, mit oder ohne Arbeit, gibt es keine Perspektive, diese Gesellschaft ist seit vielen Jahren tot, die Politik, die Wirtschaft", Tarek.
Kritiker der algerischen Regierung: Kamel Daoud
Ortwechsel: 400 Kilometer westlich von Algier liegt Oran. Hier lebt der Journalist und Schriftsteller Kamel Daoud, der die algerische Regierung scharf kritisiert. Die Kontaktaufnahme mit Daoud ist schwierig, er wird bedroht. Erst kurz vor dem Interview gibt er telefonisch seine Adresse durch – gegen ihn wurde eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten) ausgesprochen. Grund: seine Kritik am wachsenden Einfluss der Islamisten. Wir sollen nicht genau zeigen, wo er wohnt.
Mit seinem ersten Roman hat Daoud auf Anhieb großen internationalen Erfolg. Dass er das Frauenbild des Islam scharf kritisiert, macht ihn in den Augen vieler zum Nestbeschmutzer – auch deswegen wird er bedroht. "Sehen Sie, ich möchte nicht, dass die Angst meine Arbeit vergiftet, aber ich will auch nicht den Status eines Märtyrers. Ich muss mit dieser Situation leben wie alle anderen auch, ich will einfach weiter arbeiten", sagt der Schriftsteller.
Daoud hat als Journalist in den 1990er-Jahren miterlebt, wie Islamisten sein Land terrorisierten. Es ist das große Trauma der algerischen Gesellschaft. Kann sich das wiederholen? "Es wiederholt sich schon, bei Ihnen in Europa. Journalisten in der Redaktion anzugreifen, das haben wir hier bereits erlebt. Die Welt sieht gerade ein Remake des algerischen Schauspiels. Die Frage ist: Was tun gegen die Islamisten?"
"Algerien ist ein Land, das durch Angst gelähmt wird"
Algerien versank damals in einer Welle der Gewalt – das Militär hatte die Parlamentswahlen abgebrochen, als sich ein Sieg der Islamisten abzeichnete. Mehr als 100.000 Menschen starben. Für die Algerier waren das die "schwarzen Jahre". "Algerien ist ein Land, das durch Angst gelähmt wird. Keiner will sich bewegen, etwas verändern. Demokratisieren wir zu schnell, erleben wir wieder die 1990er-Jahre, blockieren wir alles, kommt es erst recht zum Knall", erklärt Daoud.
Ein Land, das sich nicht bewegt – das ist das Lebensgefühl gerade der jungen Algerier. Auch in Oran kann man beobachten, dass sie den ganzen Tag nichts tun. Deswegen möchten sie weg, nach Europa. "Hier in Algerien ist nicht der Hunger das große Problem, nicht das Brot – es ist die Sehnsucht. Die Menschen spüren eine Leere, eine Langeweile, sie können sich nicht bewegen, nicht reisen, sie können sich nicht umarmen, sich nicht lieben. Das ist es", sagt Daoud.
Keine Zukunft in der Heimat
Zurück in Algier: Auch wenn es schon lange keine Ausgangssperre mehr gibt, wirkt das Zentrum der Hauptstadt abends um acht wie ausgestorben. Viele Cafés und Restaurants haben geschlossen. Kein Wunder, dass auch Tarek sein Glück woanders suchen will: "Natürlich will ich nach Europa, als junger Mann habe ich keine Zukunft hier – ich verdiene nichts und bin arbeitslos. So sieht es für mich aus."
Algerien – das ist ein Land im Stillstand. Keiner weiß, ob sich das plötzlich ändern könnte. Es herrscht eine angespannte Ruhe.
Autor: Stefan Schaaf, ARD-Studio Madrid
Stand: 11.07.2019 05:58 Uhr
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