Mo., 29.02.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Äthiopien vor einer neuen Hungersnot?
Wer die Hungerbilder der 1980er-Jahre im Kopf hat, vergisst sie angesichts von Addis Abeba schnell. Die äthiopische Hauptstadt wächst seit Jahren, überall wird gebaut, es geht nach vorne. Seit einigen Monaten gibt es sogar eine S-Bahn mitten durch die Stadt, einmalig in diesem Teil Afrikas. Ein ganz anderes Bild bietet die ausgedörrte Afar-Region. Ein Wassertruck ist liegen geblieben. Seit gestern warten Dawud Mohammed und sein Kollege auf Hilfe. Sie waren extra nachts losgefahren, denn Wasser wird hier überall benötigt: "Wir hoffen, dass der Ersatzreifen bald kommt, die Leute warten doch verzweifelt auf uns."
So verzweifelt wie jetzt war die Lage noch nie
Eine Autostunde weiter ist die Zisterne fast leer, die Frauen streiten sich um den Rest. Ein Liter pro Person soll reichen bis zur nächsten Lieferung der Regierung – in drei bis vier Tagen. Valerie Browning von der Hilfsorganisation APDA versucht zu vermitteln. Die Australierin engagiert sich seit fast 30 Jahren für die Viehzüchter der Afar-Region. So verzweifelt wie jetzt war die Lage noch nie. Selbst aus den Pfützen sammeln sie noch Wasser für ihre Tiere.
Ganz in der Nähe ist eine Krankenstation der äthiopischen Regierung. Jeden Tag kommen Mütter mit ihren unterernährten Kindern. Der Pfleger macht sich Sorgen. Es sieht nicht gut aus, sagt Valerie. Es fehlt an allem, vor allem an gesundem Essen. Hamadou und sein Zwillingsbruder Ali sind sechs Monate alt und beide krank.
"Fast alle meine Ziegen sind tot", sagt Mutter Borele, "die übrigen geben kaum noch Milch. Ich habe nicht genug zu essen und deshalb kaum Muttermilch." Valerie bittet den Pfleger, wenigstens das Krankenlager zu säubern. "Das geht nicht, wir haben kein Wasser", sagt er. Valerie ist sprachlos. "Aber so werden die Kinder nie gesund", sagt sie schließlich. "Sie werden Durchfall bekommen."
Reichhaltige Nahrung für Kinder und Mütter benötigt
"Es ist schrecklich, absolut schockierend. Es werden mehr und mehr kleine Kinder sterben. Wir brauchen jetzt vor allem genug reichhaltige Nahrung für Kinder und Mütter, und zwar schnell", sagt Browning. Mit den Mitarbeitern ihrer lokalen Hilfsorganisation, die sich für das Volk der Afar einsetzt, versucht Valerie, ein paar Kanister Wasser zu besorgen. "Als ich hier anfing zu arbeiten, haben sich die Leute mit Milch beworfen, aus Spaß – sie hatten so viel davon. So viele Tiere, sie haben gut gelebt. Und waren gesund. So was wie heute war undenkbar", erinnert sich Browning.
Geld der Regierung kommt nicht an
Die äthiopische Regierung hat 380 Millionen Dollar bereitgestellt, um die durch El Nino drohende Hungerkatastrophe zu bekämpfen, aber hier scheint nur sehr wenig davon anzukommen. "Die Regierung auf lokaler Ebene ist schwach. Die Absicht von oben ist gut, aber wo das ganze Geld hingeht, das kontrolliert keiner, sagt Pfleger Kidane Mariam. Ist Korruption ein Problem? "Das kann schon sein, vielleicht", sagt er.
Die Regierung mag sich bemühen, die Auswirkungen von El Nino einzudämmen. Sie ist aber auch am wirtschaftlichen Aufschwung interessiert. An einer anderen Stelle der Afar-Region sehen wir ein Kanalsystem, das eine gigantische Zuckerrohrplantage bewässert. Früher kamen die Viehzüchter der Afar in Trockenzeiten hierher in das fruchtbare Flussbett, doch seit die Regierung ihr Land bebaut, geht das nicht mehr. Einen Ersatz für die verlorenen Weideflächen haben die Afar nicht bekommen.
Sorge um mangelernährte Schwangere
Valeries besondere Sorge gilt den mangelernährten Schwangeren. In den letzten Wochen sind schon einige Frauen im Wochenbett gestorben. Babys kommen tot zur Welt. Die gelernte Hebamme untersucht eine Frau, die ihr viertes Kind erwartet. Valerie rechnet mit schweren Blutungen während der Geburt. Und in der Nähe ist nur eine Krankenstation ohne Wasser.
Wir müssen Mutter Erde teilen
"Wir hier in Afar oder Äthiopien werden keine Schlagzeilen machen. Das wissen wir. Vielleicht machen wir Schlagzeilen, wenn die Menschen anfangen, in Massen zu sterben. Aber lasst es doch bitte nicht so weit kommen. Wir müssen Mutter Erde teilen. Wir müssen zusammenhalten. Der afrikanische Kontinent wird nicht einfach irgendwo hin verschwinden. Keine Ahnung, ob die Welt sich das so vorstellt", sagt Valerie Browning.
Autorin: Sabine Bohland, ARD-Studio Nairobi
Stand: 11.07.2019 05:58 Uhr
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