So., 29.03.20 | 19:25 Uhr
Das Erste
Brasilien: Verharmlosung statt Krisenmanagment
Brasilien droht eine Corona-Epidemie, aber anstatt sich darauf vorzubereiten, entfacht Präsident Jair Bolsonaro einen politischen Streit und leugnet die Gefahr durch das Virus. Über 20 Mitglieder von Bolsonaros Regierungsmannschaft sind positiv auf Corona getestet worden. Er selbst behauptet, negativ zu sein, hält aber sein Testergebnis geheim. Beobachter halten es für wahrscheinlich, dass er infiziert ist, aber bewusst lügt und das Ergebnis vertuscht. Gleichzeitig ruft er seine Anhänger auf, sich nicht zu isolieren und auf die Straße und auf die Arbeit zu gehen. Dafür gibt er jetzt sogar 850.000 Euro für eine Anti-Isolierungs-Kampagne aus Steuermitteln aus. "Brasiliens Familien müssen sich ernähren können. Deshalb sollten wir zur Normalität zurückkehren", sagt Bolsonaro.
Ein Autokorso in Südbrasilien unterstreicht Bolsonaros Worte: Aus Hunderten Karossen hallt ein Ruf: "Brasilien geht auf die Straße!" Protest gegen soziale Isolierung – mitten in der Corona-Krise. "Wir sind an der frischen Luft und alle hier unter 60 Jahren. Diejenigen, die älter sind und zur Risikogruppe gehören, bleiben in ihren Autos sitzen", sagt Paula Milani. Es sind rechtskonservative Brasilianer, die dem Aufruf ihres Präsidenten folgen.
Gouverneure der Bundesstaaten greifen durch
Dass dennoch Rios Strände geschlossen sind, liegt nur daran, dass der Gouverneur des Bundesstaats beherzt durchgegriffen hat. Strandrestaurants sind verwaist, die Copacabana fast menschenleer. Rio de Janeiro befindet sich im "Corona-Schlaf". Wo sich sonst Touristen tummeln, lautet jetzt die Devise: Isolierung und Abstand halten. Rios Gouverneur ließ das öffentliche Leben runterfahren. Die Gondel am Zuckerhut steht still. Der Gouverneur von São Paulo verhängte zudem eine Ausgangssperre. Anstelle von Staus: leere Straßen.
Menschen wie Claudio Negrão hatten gehofft, dass auch Präsident Jair Bolsonaro den Ernst der Lage erkennen würde. Mit Spannung erwartete er dessen Fernsehansprache in dieser Woche. Doch dann hörte er, wie der Präsident die Corona-Gefahr herunterspielte: “Die meisten Medien sind auf dem Holzweg. Sie streuen im Volk das Gefühl von Panik. Zum Beispiel, wenn sie die vielen Toten in Italien zeigen. Dabei hat Italien doch viel mehr ältere Menschen als Brasilien – und ein völlig anderes Klima."
Noch während Bolsonaros Ansprache brach sich überall in Brasilien die Wut über ihn Bahn. Lärm mit Töpfen und Pfannen – Protest gegen Bolsonaros Strategie, das Corona-Risiko herunterzuspielen. Auch Claudio brüllt: "Weg mit Bolsonaro." Eine Woche dauert die topfschlagende Kritik nun schon an. "Bolsonaros Rede war nichts. Er redet die Gefahr mithilfe von Lügen klein. Er belügt uns. Immer wieder verbreitet er Informationen, die einfach nicht stimmen. Er ist ein Lügner." Der allabendliche Protest reicht nun von den Vierteln der Mittelklasse sogar bis hin zu den Favelas. Die Bewohner der Armenviertel fürchten sich vor einer Epidemie. Deshalb haben die herrschenden Drogengangs eigenmächtig eine Ausgangssperre verordnet. Auch Rios größte Favela Rocinha schottet sich ab. Anders als Präsident Bolsonaro nehmen sowohl die Einwohner als auch die Gangster hier die Corona-Gefahr ernst.
Bolsonaro: Statt Quarantäne lieber Händeschütteln
Hinter Bolsonaro steht weiterhin die mächtige evangelikale Bewegung. Zum Beispiel Silas Malafaia, ein einflussreicher Pastor. Er ist wütend, denn er muss derzeit vor leeren Rängen predigen. Sonst lauschen ihm sonntags 6.500 Gläubige – und zahlen in den Klingelbeutel ein. Jetzt bleibt nur der Live-Stream für Millionen Anhänger im Netz. Rios Gouverneur hat die Messe verboten. "Natürlich bin ich gegen das Verbot. Man kann doch nicht all unsere Kirchen schließen. Unsere Tür der Hoffnung muss immer für die Gläubigen offen sein. Die Kirche ist doch ein emotional-spirituelles Krankenhaus", sagt Malafaia. Die Seelsorge sei quasi systemrelevant, argumentiert Malafaia. Und: Der Lock-Down werde weit schlimmere Folgen haben: "Wenn die Geschäfte dicht sind, verdienen die Arbeiter kein Geld mehr. Ohne Gehalt können sie sich nichts mehr kaufen. Das ist eine Gefahr für mein Land. Bald werden Supermärkte geplündert. Das gibt ein Chaos. Eine ernste Sache."
Malafaias Freund, Präsident Bolsonaro, ist womöglich selbst mit Corona infiziert. Doch anstelle von Quarantäne, schüttelt Bolsonaro lieber die Hände seiner Anhänger. "Sollte ich mit Corona infiziert sein, muss ich mir – als ehemaliger Athlet – keine Sorgen machen. Ich würde nichts spüren, höchstens eine kleine Grippe oder ein Schnüpfchen", sagt Bolsonaro. So sieht das auch der harte Kern seiner Anhänger. Auch wenn in Brasilien die Kritik an Bolsonaros Kurs wächst.
Autor: Matthias Ebert, ARD Studio Rio de Janeiro
Stand: 29.03.2020 19:38 Uhr
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