Mo., 29.10.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Brasilien: Mit der Wahl in die Diktatur?
Militärische Töne am Copacabana-Strand – im Wahlkampf-Endspurt. Gekommen sind die Anhänger des rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro. Sie fordern eine Politik der harten Hand – vor allem die vielen Motorrad-Klubs und Anhänger des brasilianischen Militärs, der harte Kern, der den Präsidentschaftsfavoriten unterstützt.
Reservist Cisero Landes erklärt: "Es wurde versucht, die Armee zu schwächen. Wir sind hier, um mit Bolsonaro das Militär wieder stark zu machen und unser Land zu beschützen."
Welle des Militarismus
Brasilien erlebt eine Welle des Militarismus, nicht nur in Copacabana, sondern auch im Bundesstaat Goiás im Landesinneren. Besuch bei der Militärschule "Vasco dos Reis": Wenn die Soldaten die Klassenzimmer betreten, heißt es strammstehen. Respekt und Drill sind die Umgangsformen, von denen sich Kommandant Sérgio Duarte gute Schulleistungen verspricht. Er leitet diejenigen öffentlichen Schulen, in denen seit einigen Jahren die Militärs das Sagen haben: "Die Militärschulen für die Militärangehörigen innerhalb der Kasernen waren sehr erfolgreich. Also hat das Erziehungsministerium den Vorschlag gemacht, dass wir Militärs auch zivile Schulen leiten sollen."
An der Schule "Vasco dos Reis" herrscht seit zwölf Jahren Uniformpflicht, seit die Militärs die Organisation übernommen haben. Die Lehrer stellt weiterhin das Erziehungsministerium.
Härtere Schulen
João Victor ist "Fiscal", also Kontroll-Schüler. Er befehligt eine Klasse von knapp 40 Teenagern. João lässt alle vor jedem Unterricht antreten und er muss den Militärs regelmäßig Meldung erstatten: "Es war nicht einfach am Anfang, mich an diese Schule zu gewöhnen. Aber mit den Jahren ging es immer besser und jetzt bin ich im Abschlussjahrgang. Diese Schule ist viel härter als normale Schulen."
Diese Härte kommt bei den Eltern gut an. Die Militärschulen boomen, wie Kommandant Sérgio Duarte bestätigt: "Das erste Jahr, in dem wir den Schulunterricht auch außerhalb unserer Kasernen organisiert haben, war so erfolgreich, dass danach viele Militärschulen entstanden sind. Mittlerweile gibt es allein in unserer Region 57 Stück."
Weil es auf einen einzigen Platz zehn Bewerber gibt, müssen sie sogar losen. Nebenan findet gerade ein Vorstellungsgespräch statt. Dieser Zahnarzt und seine Frau wünschen sich einen Platz für ihren Sohn. Vater Wagner Moraes: "Die Kinder müssen wieder mehr Respekt haben vor Älteren und Lehrern und ihr Heimatland ehren. Heutzutage ist es doch so, dass die Kinder Lieder über Drogen und Sex auswendig können, aber nicht mal ihre Nationalhymne."
Bildung durch Gehorsam
Kurz darauf: Militärischer Drill beim Appell. Es ist das, was Kommandant Duarte unter Bürgerkundeunterricht versteht: Bildung durch Gehorsam: "Disziplin ist wichtig und frei von Intellekt; sie ist wichtig, zum Beispiel zwischen den Eltern und ihrem Kind. Aber sie hilft auch, um auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu sein."
Nach der "Bürgerkunde" der Spanischunterricht: Diese Schülerinnen halten gerade einen Vortrag über ein Liebesgedicht von Pablo Neruda. Überraschend: Ein chilenischer Kommunist als Lernstoff an einer Militärschule. Möglich deshalb, weil nicht die Militärs den Lehrplan bestimmen, sondern das Erziehungsministerium. Entscheidend ist vor allem die Frage, wie hier mit der Zeit der Militärdiktatur umgegangen wird.
Kommandant Sérgio Duarte beteuert: "Wir verändern nichts an den Lehrplänen. Was die Geschichte Brasiliens betrifft, lehren wir alles: dass es eine schwierige Zeit war, dass die politische Führung in der Hand der Militärs lag. Wir erläutern die gesamte Geschichte."
Experten kritisieren jedoch, dass Brasilien die Militärdiktatur generell verharmlose. Dies fange bereits beim Geschichtsunterricht an, so Oliver Stuenkel von der Stiftung Getulio Vargas: "Brasilien hat anders als andere Länder keine systematische Vergangenheitsbewältigung betrieben. Die Vergangenheit wurde nicht so aufgearbeitet, wie das viele andere Länder getan haben. Es ist in Brasilien, anders als in Argentinien oder Chile, salonfähig zu sagen, dass die Militärdiktatur eigentlich gar nicht so schlimm war. Das sind Probleme, die wir jetzt sehen, die darauf zurückzuführen sind, dass sich die Gesellschaft nie mit sich selbst auseinandergesetzt hat."
Aufmarsch der Soldaten
Deshalb marschieren mittlerweile Soldaten in Copacabana auf – offene Unterstützung für Jair Bolsonaro. Der Rechtsextreme fordert mehr Militärschulen und Einfluss auf den Lernstoff. Immer wieder hat er Folter als legitimes Mittel verharmlost. Das verfängt bei seinen Anhängern, wie Ester Hamsani: "Es ist relativ, von Folter und Diktatur zu sprechen. Es gab nämlich keine Diktatur, sondern lediglich ein Militärregime. Diktaturen sind Venezuela und Kuba."
Eine Welle der Militarisierung hat Brasilien längst erfasst. Kritiker sehen darin eine Gefahr für Brasiliens noch junge Demokratie.
Autor: Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro
Stand: 29.08.2019 03:12 Uhr
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