So., 24.03.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Israel: Kampf gegen häusliche Gewalt
Jede Familie hat eine Geschichte! Ortal Shafak hat diesen Willkommensgruß hinter der Eingangstür aufgeklebt. Die 35-Jährige ist gerade dabei, sich in ihrer Wohnung neu einzurichten. Alles deutet auf eine glückliche Kindheit und Familie hin. Überall hängen Bilder ihrer strahlenden Mutter Aliza. Auf den Fotos zu sehen sind vier Geschwister, viele Freunde, Verwandte, aber kein einziges Foto von ihrem Vater Itzhak.
Mord mit einem Küchenmesser
"Wir haben alle Bilder von ihm weggeräumt", erzählt Ortal Shafak. Ihre Mutter ist erst 17, schwanger mit Ortal und sehr verliebt als sie den 19-jährigen Itzhak heiratet. "Sie hat nicht gewusst, auf welches Monster sie sich einlässt", sagt Ortal Shafak. "Es hat auch lange gedauert, bis ich kapiert habe, in was für einer Familie ich aufwachse. Erst als ich 16 oder 17 war, habe ich realisiert, dass das nicht normal ist. Das ständige Geschrei, die Gewalt."
Jahrzehnte spielen Ortal, ihre Schwester, die beiden Brüder und ihre Mutter nach Außen heile Welt vor. Sie ertragen die ständigen Schläge des Vaters. Bis es zu spät ist. Am 10. Oktober sticht Itzhak Shafak laut Polizeibericht 15 Mal mit einem Küchenmesser auf seine Frau ein. Aliza Shafak wurde 53 Jahre und 6 Tage alt.
Gewalt auch in der Mitte der jüdischen Gesellschaft
Sie ist eine von 24 Frauen, die 2018 in Israel häuslicher Gewalt zum Opfer fallen. Dagegen, dass die Zahl der Toten seit Jahren steigt, dagegen, dass deren Hilferufe oft ungehört verhallen, hat sich nun eine Protestbewegung formiert. Viele der Toten sind arabische Israelinnen. Aber Expertinnen, wie die Anwältin Ruth Lowenstein- Lazar, wissen: Die Gewalt wohnt auch in der Mitte der jüdischen Gesellschaft. "Wenn wir über häusliche Gewalt sprechen, müssen wir wissen, dass sie sich durch alle Schichten zieht: Frauen aller Religionen, aller Gehaltsklassen, Kulturen und Hautfarben sind betroffen."
Nach dem Mord an ihrer Mutter stellt sich Ortal an die Spitze der Protestbewegung, die besseren Opferschutz fordert. "Meine Mutter wurde ermordet, weil sie endlich frei sein wollte. Sie wollte nur glücklich sein", sagt Ortal Shafak. Morgen könnte das jeder von uns auch passieren. "Meine Mutter hat die Rabbis um Scheidung gebeten. Aber die ziehen solche Fälle jahrelang hin. Und unsere Regierung schweigt. Es ist eine Schande! Aber zusammen sind wir stark."
Rabbinat lässt Aliza warten
Tatsächlich unternimmt Aliza mehrmals Versuche, den gewalttätigen Ehemann loszuwerden. Bilder von der Überwachungskamera in ihrem Wohnzimmer zeigen, wie ihn die Polizei abholt. Sie erstattet Anzeige. Sie beantragt die Scheidung beim Rabbinat, das in Israel dafür zuständig ist. Man lässt sie monatelang auf Antwort warten. In der Zwischenzeit zieht Aliza Anzeige und Scheidungsklage wieder zurück. Sie beginnt dann auf Anraten der Rabbiner eine Paartherapie mit Itzhak, der sich vergeblich als Geschäftsmann ausprobiert, immer mehr Schulden anhäuft. Aliza, die ehemalige Radioansagerin geht Putzen, um die Familie über Wasser zu halten. Die Sozialarbeiter stufen die Gefahr einer neuen Gewaltorgie von "bisher mittel auf niedrig" ein. "Sie kam immer wieder zurück, sie zögerte. Er hat ihr Angst gemacht, ihr gesagt, dass sie es ohne ihn nicht schaffen wird, ohne Geld, mit den Kindern. Niemand wird sich kümmern. Es hat lange gedauert, bis sie verstanden hat, sie schafft das", erinnert sich Ortal Shafak.
Ihre Mutter beantragt nochmals die Scheidung beim Rabbinat. Die Antwort der religiösen Gerichtbarkeit: Sie soll versuchen, Frieden mit ihrem Ehemann zu schließen. Aliza verlässt ihn trotzdem, zieht zur Tochter und blüht auf. Die Polizei hat den Fall trotz der zurückgezogenen Anzeige weiterverfolgt. Itzhak erhält eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten und umgerechnet etwa 1.250 Euro.
Bewusstsein der Zivilgesellschaft schärfen
Nach dem Mord: Überwachsungskameras zeigen, wie er ziellos durch die Stadt Netanya läuft. Per WhatsApp gesteht er einem Freund die Tat, wird festgenommen. Seine Frau, so gibt er vor Gericht an, habe er im Affekt bei einer letzten Aussprache getötet. Sie habe ihn beschimpft, als Versager dargestellt. Da habe er in der Küche das Messer gesehen. Der Prozess läuft noch.
"Durch höhere Strafen oder längere Gefängnisaufenthalte werden wir das Problem nicht lösen. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Wir müssen das Bewusstsein der Zivilgesellschaft schärfen, Gesundheitssystem, Sozialarbeiter müssen zusammenarbeiten, um möglichst früh einzugreifen", sagt Ruth Lowenstein-Lazar.
Ortal ist mittlerweile in ganz Israel bekannt. Sie möchte durch ihr öffentliches Auftreten betroffene Frauen ermutigen, so rasch wie möglich Hilfe zu suchen. Ortal hat gerade so viel zu tun, dass sie manchmal kurzzeitig vergisst, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Erst am Grab, sagt sie, wird ihr die Tragödie jedes Mal so richtig bewusst. Der Vater hat 1.000 Mal damit gedroht, seine Frau umzubringen. "Aber irgendwann haben wir geglaubt, das sind nur Worte. Nicht das er es tatsächlich tut", sagt Ortal Shafak. Das war ein tödlicher Fehler. Andere sollen ihn nicht wiederholen. Ortal hat eine Mission.
Autorin: Susanne Glass, ARD Studio Tel Aviv
Stand: 23.07.2019 14:13 Uhr
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