Mo., 25.04.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Jemen: Ein Staat kollabiert
Binnenflüchtlinge im Jemen, dem Armenhaus der arabischen Welt. Gestrandet in Steinhütten, Notunterkünften und Höhlen. Geflohen vor einem Krieg, den sie nicht verstehen.
Einen Tag lang hat Vater Mahdy nach seinem Sohn Ahmed gesucht, in den Trümmern des von saudischen Kampfjets zerstörten Hauses. Ahmeds gebrochener Fuß ist bislang nicht behandelt worden. Es gibt fast keine Worte für das Leid, das uns aus diesen Gesichtern förmlich entgegenspringt.
"Wir haben nicht mal die einfachsten Dinge. Die Kinder sind krank, wir haben keine Häuser, die man so nennen kann, kein Essen, das diese Bezeichnung verdient, keine Hilfsorganisation hat sich hier blicken lassen, kein Mensch hat sich um uns gekümmert."
Mahdy, der Scheich, ist Stammeschef einer Gruppe von 48 Familien, die vor den Bomben in die Nähe der Hauptstadt Sanaa geflüchtet sind. Keiner von ihnen hätte das Geld, um sich eine Wohnung leisten zu können. Mahdy kümmert sich, so gut er kann, um diejenigen, denen es besonders schlecht geht.
Kein Geld für Essen, Wohnung, Medikamente
Murad hat eine chronische Blutkrankheit – und braucht dringend einen Arzt. Murad wohnt zusammen mit seinen Eltern und seinen sechs Geschwistern in diesem Lehmhaus. Giftige Schlangen, Tausendfüßler und Skorpione gibt es hier. Eine Kanne Tee für die Erwachsenen – der einzige Luxus, den die Familie sich leisten kann, oft geht sie abends hungrig zu Bett. Nach ihrer Flucht vor den saudischen Hi–Tech–Bomben in die Hauptstadt Sanaa müssten sie jetzt eigentlich auch von hier fliehen, aber wohin?
Murads Mutter ist verzweifelt: "Ich habe nichts mehr, was ich meiner Familie geben kann, wir haben nicht mal eine Tasse Milch, das hier ist alles, was übrig ist: dieses trockene Brot. Niemand gibt uns etwas." Murad hat hohes Fieber und ist vollkommen kraftlos. Seine Gelenke sind geschwollen, er hat starke Schmerzen.
Gestern war Scheich Mahdy mit seinem eigenen Sohn Ahmed im Krankenhaus gewesen, vergeblich, niemand konnte helfen. Heute versuchen sie es aufs Neue, diesmal mit Murad. Denn es geht ihm immer schlechter. Mit einem Kleintransporter wollen sie hineinfahren in den Moloch Sanaa und um ihr Recht kämpfen im einzigen Krankenhaus, das für Binnenflüchtlinge zuständig ist. 3000 Rial kostet die Hin- und Rückfahrt, umgerechnet zehn Euro. Die Leute haben zusammengelegt, Murads Eltern haben keinen Cent.
Der Jemen wird dem Erdboden gleich gemacht
Der Jemen – ein gescheiterter Staat. Der Norden kämpft gegen den Süden, die mächtigen Stämme gegen die jeweilige Zentralregierung und diese gegen brandgefährliche Al–Kaida–Terroristen. Nachdem schiitische Huthi–Milizen – mit Unterstützung des Iran – die sunnitische Regierung abgesetzt haben, werden die Huthis von der saudi–arabischen Luftwaffe bombardiert. Militärposten, Brücken, Ministerien, Flughäfen, Wasserpumpen, Tankstellen… seit über einem Jahr wird der Jemen dem Erdboden gleich gemacht. Auch vor Wohnhäusern machen die saudischen Piloten nicht halt. Selbst die einzigartige, historische Altstadt von Sanaa wurde oft von Raketen getroffen. Die UNESCO hat sie auf die Rote Liste des gefährdeten Weltkulturerbes gesetzt.
Ankunft in der al-Thaura-Klinik: jetzt kommt es darauf an. Wahrscheinlich leidet Murad unter einer schweren Blutkrankheit, sagt die Ärztin, darauf deute hin, dass die ersten Symptome kamen, als Murad sechs Monate alt war. Aber sicher könne man erst nach weiteren Tests sein – und die könnten Tage dauern. Die roten Blutkörperchen werden zerstört, verklumpen, führen zu Entzündungen und starken Schmerzen oder Thrombosen, die Lebenserwartung ist stark vermindert.
Nicht mal ein einfaches Antibiotikum ist zu bekommen
"Ich habe Hunger", sagt Murad einmal leise, aber niemand hat ein Brot dabei. Was sie tun könne für den Jungen, sagt die Ärztin: ihm ein Mittel zu verschreiben gegen die Schmerzen und ein Antibiotikum gegen die Entzündung und das Fieber. Dann begleiten wir den Stammeschef in die Apotheke, die der Klinik angeschlossen ist. Es dauert wenige Sekunden bis klar wird, dass die Apotheker kein einziges Medikament haben, das Murad benötigt. Scheich Mahdy nimmt den Zettel nicht zurück – wie um sich aufzulehnen gegen das Schicksal. Dann platzt es aus der Apothekerin heraus:
"Diese Flüchtlinge haben alles verloren und sie kommen hierher, weil sie krank sind. Aber wir haben nichts, was wir ihnen geben können. Überhaupt nichts! Nicht mal ein einfaches Breitband-Antibiotikum. An wirklich schwere Fälle gar nicht zu denken: Niere, Haut, Blut. Ich schwöre zu Gott: jedes Mal bricht mein Herz!"
Scheich Mahdy ist verzweifelt: "Wir Flüchtlinge sind an den Rand gedrängt in unserem eigenen Land! Und der Jemen wird von Saudi–Arabien zu Land und in der Luft blockiert. Und was bedeutet das? Es bedeutet, dass unsere Kinder sterben werden!" Selbst der mächtigste Mann seines Stammes schafft es nicht, einem chronisch kranken Kind zu helfen, so sehr er auch gekämpft hat. Um den fünfjährigen Murad steht es nicht gut.
Ein Beitrag von Thomas Aders/ARD Studio Kairo
Stand: 11.07.2019 16:24 Uhr
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