Mo., 26.09.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Voller Misstrauen – die schwierige Beziehung von Letten und Russen
"Riga, das ist meine Stadt", sagt Beata. Die junge Frau gehört zum russischen Teil der Bevölkerung, wie etwa die Hälfte der Menschen in der lettischen Hauptstadt. Aber nicht alle geben so ein klares Bekenntnis zu ihrer Heimat ab. Seit der Unabhängigkeit des baltischen Staates leben Letten und russischstämmige Einwohner eher nebeneinander her als miteinander. Vor allem die Sprachtests, ohne die Russen nicht die lettische Staatsbürgerschaft bekommen können, vertiefen die Spaltung. Rentner Sergej Tjulemin zum Beispiel lehnt es vehement ab, sich prüfen zu lassen.
"Dann würde ich ja zugeben, dass ich ein Eindringling bin", klagt der Mann, der als Kind in der Sowjetzeit mit seinen Eltern kam. Er hat Verständnis für Russland, das dem Westen nicht mehr trauen könne. Demgegenüber stehen die Letten, die wiederum den Russen im eigenen Land nicht trauen. An der Sprache wird der ganze Konflikt deutlich. Wir sind doch so ein kleines Land, sagen sie. Wer, wenn nicht wir, soll unsere Sprache schützen? Eine vertrackte Situation. Dabei wollen die meisten der russischstämmigen Einwohner Lettlands nicht in Russland leben, wie Clas Oliver Richter herausgefunden hat.
Wenn das Wetter richtig schön ist, fährt Beata Vrevska mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie sagt, Riga sei Ihre Stadt. Hier ist sie geboren und aufgewachsen. In der lettischen Hauptstadt fühlt sie sich zuhause.
Beata gehört zum russischen Teil der Bevölkerung, wie etwa die Hälfte der Einwohner Rigas. In einem der besseren Viertel der Stadt besitzt sie ein kleines Geschäft: Bio-Lebensmittel aus regionalen Produktion. Der Name ihres Gemüseladens ist "Borninlatvia". Er soll zeigen, wohin Beata gehört. "Ich bin dennoch sehr stolz auf meine russische Herkunft. Ich spreche auch viel lettisch. Aber lettisch fühlt sich anders an. Russisch ist meine Muttersprache."
"Für viele immer noch eine Fremdsprache"
Damit Beata die lettische Staatsbürgerschaft bekommen konnte, musste sie erst eine Prüfung ablegen, obwohl sie in Lettland auf die Welt gekommen ist. Aber das Gesetz verlangt, Lettisch-Kenntnisse nachzuweisen. Denn die offizielle Staatsprache ist lettisch, auch die Preistafeln in ihrem Laden müssem in Lettisch geschrieben sein. "Für die Generation meiner Mutter ist das immer noch ein psychologisches Problem. Denn sie hat ihr Leben lang kaum lettisch gesprochen, das ist für viele immer noch wie eine Fremdsprache", sagt Beata.
In den Plattenbausiedlungen am Rand von Riga leben viele Russischstämmige, die sich bis heute schwertun, mit allem, was lettisch ist. Sergej Tjulemin ist einer von ihnen. Wenn er seine Wut nicht mehr unterdrücken kann, dann muss er zeichnen. Das macht er an seinem Küchentisch. Lange gehörte er zu den bekanntesten Karikaturisten in den russischsprachigen Zeitungen. Jetzt ist er Rentner und muss mit weniger als 200 Euro pro Monat auskommen. Lettischer Staatsbürger ist er nicht - eine Prüfung ablegen wäre eine Demütigung für ihn, wo er doch seit seiner Kindheit hier lebt: "Wenn ich diese Lettisch-Prüfung ablegen würde, dann würde ich ja zugeben, ein Eindringling aus einem anderen Land zu sein. Ich würde eingestehen, dass meine Eltern zu Sowjet-Zeiten als Eindringlinge hierhergekommen sind", erklärt Tjulemin.
"Die lettische Sprache wird die russische Sprache nie besiegen"
Als sogenannter Nichtbürger darf Sergej nicht wählen und kein öffentliches Amt bekleiden. Seit Lettisch einzige Staatssprache ist, sieht er das Land nicht mehr als Demokratie: "Die lettische Sprache wird die russische Sprache nie besiegen. Dieses Volk ist viel zu klein, um das Große besiegen zu können, die 140 Millionen Russen." Sergej hat Verständnis für die russische Regierung, die dem Westen nicht mehr traut, sondern auf die eigene Stärke setzt.
"Wir haben keine Zweisprachigkeit"
Das staatliche Sprachinstitut sorgt dafür, dass im öffentlichen Raum die Staatssprache Lettisch gepflegt und gefördert wird. Mitarbeiterin Pavulena Sarmite kontrolliert, ob zum Beispiel auf Internetseiten lettischer Firmen ausschließlich russische Texte stehen. Das wäre nämlich nicht erlaubt. "Wir müssen doch unsere Sprache schützen, Lettisch wird doch nur in unserem Land gesprochen", sagt Sarmite. Dass viele der Russischstämmigen sich ausgegrenzt fühlen, daran könne man nichts ändern. Die eigene lettische Sprache schütze das Land vor zu viel russischem Einfluss: "Lettisch ist in der Verfassung als einzige Staatssprache verankert. Wir haben keine Zweisprachigkeit. Offensichtlich fällt es vielen Menschen sehr schwer, das zu akzeptieren."
"Was bin ich?"
In ihrem Bio-Laden fachsimpelt Beata mit ihrer Mutter Natalia häufig darüber, wie sie das Angebot an frischen Lebensmitteln noch verbessern kann. Und immer wieder reden sie auch darüber, warum so viele Letten und Russen nebeneinanderher leben - und nicht miteinander. Es ist der Frust, über das, was in den ersten Jahren der Unabhängigkeit geschehen ist. Da sind sie sich einig. "Bei einer Auslandsreise 1995 oder 1996, musste ich betätigen, dass ich nicht Bürgerin Lettlands bin und auch nicht von irgendeinem anderen Land. Da habe ich gefragt. Was bin ich? Keiner konnte mir eine Antwort geben", erinnert sich Beatas Mutter.
Bis heute hat sie sich nicht um die Staatsbürgerschaft beworben. Freunde und Verwandte sind Russen, mit Letten hat sie kaum zu tun. "In erster Linie ist es wohl so, dass ich mir nicht mehr die Mühe machen will, in der Prüfung zu sitzen! Es ist schon eine Hürde, alles auf Lettisch zu können – die Grammatik. Obwohl ich es vielleicht sogar schaffen könnte.“
"Ich war es einfach leid, ständig gefragt zu werden, wo ich herkomme, deshalb habe ich die Prüfung gemacht", sagt Beata. Sie weiß inzwischen, wo sie hingehört. Auch ihre Mutter sagt, ihre Heimat sei Lettland. Nur mit den Letten sei es nicht immer so einfach. Nach Russland wollte sie aber nie ziehen.
Autor: Clas Oliver Richter, ARD-Studio Stockholm
Stand: 12.07.2019 20:38 Uhr
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