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USA/GB/Russland: Neuer Kalter Krieg
Hochgiftig und bisher weitgehend unbekannt: Novichok, russisch für "Neuling", heißt die Gruppe der Nervengifte, die nach dem Anschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter nun auch die internationalen Beziehungen vergiftet. Will Mirsajanow begleitet das Gift namens "Novichok" schon seit Jahrzehnten. Seine Vergangenheit als Chemiker in der Sowjetunion lässt ihn nicht los: Vil Mirsajanow spricht in diesen Tagen oft mit Ehefrau Gale über diese Zeit: 26 Jahre lang hat er am Institut für Organische Chemie und Technologie in Moskau gearbeitet – und unter größter Geheimhaltung Novichok mitentwickelt.
Dass dieses Nervengift in Salisbury zum Einsatz gekommen sein soll, ein Schock für den 83-Jährigen: "Ich habe diese Waffe zwar nicht erfunden, aber ich war an allen Schritten der Entwicklung dieses Nervengiftes Novichok beteiligt. Bis zu dem Moment, als es zu einer Waffe für die Sowjet-Armee wurde. Ich trage also Verantwortung und fühle mich schuldig."
Mirsajanow: "Hinter dem Anschlag steckt Russland"
Am Rande eines Waldes, nahe Princeton in New Jersey, lebt er seit 1995 im Exil: Denn schon Anfang der 1990er-Jahre quälten ihn Gewissensbisse. Damals noch in Russland, warnte Mirsajanow in Zeitungsartikeln vor Novichok. Deshalb kam er wegen Geheimnisverrats in Haft. Erst auf internationalen Druck hin durfte er ausreisen. Später veröffentlichte er vertrauliche Dokumente über Novichok – um vor diesem grausamen Gift zu warnen. Mirsajanow ist überzeugt: Nur Russland besäße die Expertise für einen solchen Angriff: "Ohne hochqualifiziertes Personal, ohne Labore und ohne die Erfahrung, wie es sie an unserem Institut gab, ist so ein Anschlag gar nicht möglich. Deshalb bin ich sicher: dahinter steckt Russland."
Auch Großbritannien ist von der Schuld Russlands überzeugt. Stichhaltige Beweise haben die Briten bisher keine vorgelegt. Die Bank, auf der die Opfer kollabierten, ist im Fokus der Ermittler. Russland betont: Mit der Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal und Tochter Julia habe man nichts zu tun. Ein Hauptargument Russlands: Man habe seine Pflichten erfüllt und zwischen 1997 und 2017 alle chemischen Kampfstoffe unschädlich gemacht – unter internationaler Aufsicht.
"Novichok muss unter internationale Kontrolle gestellt werden"
Aber gilt das auch für Novichok, das mutmaßliche Gift von Salisbury? Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die nun auch im "Fall Skripal" ermittelt, habe nie vom Novichok-Programm erfahren, es sei auf keiner Kontrollliste aufgetaucht, behauptet Mirsajanow: "Ich war ja lange selbst die finale Instanz um das Geheimnis zu schützen. Ich habe meine Arbeit zunächst weiter gemacht, auch wenn ich dann irgendwann nicht mehr überzeugt davon war, dass das Land chemische Waffen zur Verteidigung braucht. Ich wusste da schon, dass diese Nervengifte vor allem eine Gefahr für Zivilisten sind, für unschuldige Menschen. Aber ich habe meine Arbeit da noch erfüllt. Das war eine wissenschaftliche Arbeit."
Dass seine späteren Veröffentlichungen und Warnungen dann auch vom Westen ignoriert wurden, hat Mirsajanow wütend gemacht: "Novichok muss unter internationale Kontrolle gestellt werden – das heißt es muss auf die Liste der verbotenen Nervengifte, gemäß der Chemiewaffenkonvention. Das ist mein Ziel. Wenn das nicht geschieht, kann ein weiterer Anschlag nicht ausgeschlossen werden."
Russland bezeichnet Mirsajanow als Lügner
Im russischen Staatsfernsehen ist der "Fall Skripal" Topthema: Mal wird gefragt, ob die Skripals sich nur eine Lebensmittelvergiftung holten, oder andere Länder werden beschuldigt. Auch Mirsajanow ist Thema: Auf mehreren Sendern wird er als Lügner bezeichnet und wegen seiner Veröffentlichungen über Novichok als mitschuldig gebrandmarkt. Für Mirsajanow ist das Teil der Einschüchterungstaktik der russischen Staatsmacht – so wie der Anschlag selbst: "Das war eine offene Demonstration, eine Warnung an potenzielle Gegner des Kreml. Es ist ein qualvoller, demonstrativer Tod. Die Qualen sind unbeschreiblich."
Aber Angst um seine Familie und sich selbst habe er nicht. Und schweigen über das grausame, einst so geheime Nervengift will der 83-Jährige auch in Zukunft nicht.
Autorin: Mareike Aden, NDR
Stand: 02.08.2019 00:27 Uhr
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