Mo., 26.03.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
USA: Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
Stephanie Tucker will sich nicht unterkriegen lassen. Einmal die Woche muss sie zur Chemotherapie. Sohn Marcel begleitet seine Mutter. Sie hat Brustkrebs. Krankgeschrieben ist sie trotzdem nicht. "Auf meinem Stundenzettel für diese Woche muss ich die Stelle 'ohne Gehalt' ankreuzen. Ich bekomme also für heute kein Geld. Das ist ein großer Druck. Ich muss eine Hypothek abzahlen, das Auto kostet. Es ist schon hart, aber wenn es um deine Gesundheit geht, hast du keine Wahl. Das muss einfach sein."
Kampf gegen Krebs und das finanzielle Überleben
Beide Brüste muss der Doktor amputieren. Nach dem Eingriff werde Stephanie mehrere Wochen nicht arbeiten können, sagt der Arzt. Das würde für sie bedeuten: mehrere Wochen ganz ohne Lohn. Deshalb zögert die 48-Jährige den OP-Termin hinaus. In einem Monat hat sie bei ihrem Arbeitgeber Anspruch auf begrenzte Berufsunfähigkeit. Dann bekommt sie 60 Prozent ihres Gehalts. Das muss irgendwie reichen. Die Belastung ist enorm. Die alleinstehende Frau aus Philadelphia kämpft gegen Krebs und zugleich ums finanzielle Überleben: "Zuerst dachte ich: Mein Gott, wie soll ich das nur schaffen? Kann ich es verbergen? Aber ich hab nie daran gedacht, mich nicht behandeln zu lassen."
Trotz der Nebenwirkungen bei Chemotherapie arbeiten viele Betroffene weiter – aus Angst, den Job zu verlieren. Stress, der nicht gerade hilft, gesund zu werden. "Einigen empfehlen wir nicht zu arbeiten – je nach Job. Wenn sie es sich nicht leisten können, wie manche im Gesundheitswesen, dann stresst es sie, wenn sie arbeiten müssen", erzählt Diane Archambault, Krankenschwester auf der Onkologie.
"Einige Arbeitgeber sind großzügiger, andere nicht"
"Es gab solche Tage. Dann rief ich meinen Vorgesetzten an und sagte ihm, dass ich zu müde bin. Wenn ich noch einen Krankheits- oder Urlaubstag hatte, dann war das keine große Sache. Aber wenn nicht, dann wusste ich, was das bedeutet. Tja, damit muss man leben", erinnert sich Stephanie Tucker. Krebskranke in den USA müssen belegen, warum sie nicht zur Arbeit können. Dafür brauchen sie die Unterstützung des Krankenhauspersonals. "Einige Arbeitgeber sind großzügiger, andere nicht. Das ist dauernd ein Problem hier. Wir arbeiten an individuellen Lösungen. Die Schwestern sind unbezahlbar, weil sie den Menschen helfen, passende Termine zu finden", sagt Onkologe Benjamin Jacobs. Stephanie Tucker kommt immer am Freitag zur Chemo. Das Wochenende hat sie frei und kann sich etwas erholen.
"Das ist unsere Lebensart"
Hinter Melanie Morgan liegen zweieinhalb Stunden Fahrt. Sie wird von ihrer Tochter begleitet. Ihre Unterkunft ist eine Art Patientenhotel, ausschließlich über Spenden finanziert. An jedem Zimmer hängt eine Spenderplakette. Die Kranken müssen nichts bezahlen. Auch Melanie arbeitet trotz Chemotherapie. Ihr Arbeitgeber kam ihr immerhin entgegen: Vor der Diagnose ist sie viel gereist, jetzt macht sie alles vom Computer aus. "Das ist unsere Lebensart. Ich arbeite selbst im Gesundheitswesen. Ich kenne viele, die nicht so gut dran sind wie ich, die nicht weiter arbeiten können. Aber das ist halt unsere Art zu leben. Das gehört dazu. Wir sehen das nicht als Last."
Wohltätigkeitsorganisationen helfen
Sie kommt nach Little Rock in Arkansas zur Behandlung. Die medizinische Universität ist spezialisiert auf die Art Krebs, unter der Melanie leidet: das Myelom, eine Art Knochenmarkkrebs. In dem renommierte Forschungszentrum werden weltweit die meisten Myelom-Patienten behandelt. Wenn die Versicherung nicht bezahlt, bietet das Krankenhaus Hilfe über Wohltätigkeitsorganisationen. "Das amerikanische System ist sehr viel komplizierter. Für die Patienten ist es eine zusätzliche Last, dass sie durch diese komplexe finanzielle Welt steuern müssen. Bei den Leistungen, auf die sie ein Anrecht haben, und genauso bei Versicherungsfragen. Das kann sehr entmutigend sein", erklärt Frits van Rhee, Onkologe, UAMS Myeloma Institute, University of Arkansas of Medical Science die Hilfe.
Der klinikeigene Sozialarbeiter beriet Melanie Morgan, wo sie Unterstützung finden konnte. Von ihrem Gehalt hätte sie sich drei Wochen im Hotel – so lange dauern ihre Behandlungen manchmal – nicht leisten können. "Es fällt mir sehr schwer, wohltätige Hilfe zu akzeptieren. Ich bin jemand, der gerne gibt. Ich kann nur schlecht annehmen. Ich hab immer alles für die anderen gemacht. Ich hab vier Kinder groß gezogen."
Ohne die Hilfe ihrer Familie, das weiß Melanie Morgan, wäre das alles nicht möglich. Stolz zeigt sie ihrem Arzt ein Foto. Familie und großzügige Spender statt staatlicher Hilfe. Ein nationales Recht auf Krankschreibung existiert in den USA nicht.
Der Wunsch nach einem anderen Gesundheitssystem
Frauen wie Melanie und Stephanie haben noch Glück. Sie haben wenigstens ein paar bezahlte Krankheitstage oder können Urlaubstage nehmen, wenn es ihnen nicht gut geht. Andere Arbeitgeber bieten das nicht. Und trotzdem begehrt kaum jemand auf. "Sie denken, sie können nichts verändern. Sie haben Angst, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn sie etwas gegen unsere Regierung sagen. Es ist ein Tabu. Viele akzeptieren es halt und sagen, es ist wie es ist", sagt Stephanie Tucker.
Stephanie wünscht sich ein anderes Gesundheitssystem. Eines, bei dem Kranke die Zeit bekommen, die sie brauchen, um gesund zu werden. Und zwar ohne Existenzangst.
Autorin: Claudia Buckenmaier, ARD-Studio Washington
Stand: 02.08.2019 00:27 Uhr
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