So., 19.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Schweden: Corona-Sonderweg auf Kosten von Senioren?
Aus der Ferne betrachtet, sieht der schwedische Sommer aus wie in all den Jahren zuvor. Die Menschen sind draußen auf dem Land, machen Ferien, feiern die helle Jahreszeit. Aber der schwedische Sonderweg in der Cronakrise hat das Land und das Bild, das viele von ihm haben, verändert. Es ist ein anderer Sommer, der erste Sommer nach Corona.
Seit 30 Jahren betreibt Ingela Andrée einen kleinen Landhandel in Gustavsfors im westschwedischen Dalsland. Sie ist so etwas wie die gute Seele des Ortes und organisiert jedes Jahr die Mittsommer-Feier – natürlich auch in diesem Jahr. Trotz oder gerade wegen Corona. "Es ist sehr tragisch, was hier passiert ist, dass so viele Menschen sterben mussten. Aber jedes Land sucht seine eigene Strategie. In vielen Ländern sagen sie, man soll einen Mundschutz tragen, hier sagen sie, dass sei nicht notwendig. Das sind keine einfachen Fragen. Man sollte mehr darüber nachdenken", sagt Ingela Andrée.
Nachdenken, das tun die Menschen – auch hier an der Grenze zwischen Dalsland und Värmland, einer Gegend, in der es bisher kaum Corona-Fälle gegeben hat. Trotzdem fehlen die Touristen in diesem Sommer. Der schwedische Sonderweg hat viele abgeschreckt. Auch in der Hauptstadt Stockholm fühlt sich der Sommer anders an als sonst. Die Altstadt ist an vielen Tagen ungewohnt leer.
"Es gibt Bereiche, die problematisch sind. Altenpflege gehört dazu"
Wenn man nach Sinnbildern für das Scheitern des schwedischen Weges sucht, findet man sie in den Pflegeheime des Landes. Von knapp 100 Patienten in diesem Heim in Solna bei Stockholm sind fast die Hälfte an Covid-19 gestorben. Einer der Toten ist Jan Glückmann. Er hatte Demenz, starb mit 83. Die Todesumstände ihres Vaters machen Tochter Helén Glückman noch immer fassungslos: "Der Arzt ist nicht einmal zu ihm gefahren. Unmittelbar nachdem mein Vater die Diagnose Covid-19 bekommen hatte, hat der Arzt lediglich per Telefon entschieden, dass er nur noch palliativ behandelt werden soll. Der Arzt hat ihn nicht einmal untersucht."
Die Krankenhäuser in Stockholm sind zu dieser Zeit an ihrer Belastungsgrenze. Patienten wie Jan sollen im Heim behandelt werden. Doch für die Coronafälle ist die Einrichtung weder technisch noch personell ausgerüstet. "Wäre er heute erkrankt, hätte ich mich niemals auf eine rein palliative Behandlung eingelassen. Aber damals ging ich davon aus, dass sie das Beste für ihn tun. Mir war nicht klar, dass sie ihm praktisch das Leben genommen haben, indem sie ihm nur Morphin gegeben haben. Aber damit müssen wir jetzt leben", sagt Glückman. Sie hat Beschwerde eingereicht. Das Pflegeheim prüft nun den Fall. Eine Antwort hat sie aber noch nicht bekommen. Es sei eben Urlaubszeit, sagt sie.
Mehr als 5.500 Corona-Tote zählt das Land bisher. Ein paar Demonstranten stehen seit Kurzem vor dem Gebäude, in dem die Behörde für Volksgesundheit ihre Pressekonferenzen abhält. Ihr Chef Johan Carlson zieht – trotz aller Kritik – ein positives Fazit nach sechs Monaten Corona: "Natürlich gibt es Bereiche, die problematisch sind. Die Altenpflege gehört dazu. Aber im Grunde genommen bin ich zufrieden damit, dass wir eine Strategie gefunden haben, die von der Bevölkerung mitgetragen und umgesetzt wird. Die Menschen haben ihr Verhalten verändert. Die Schweden wissen also, was sie zu tun haben, und sie sehen die Ergebnisse." Seit ein paar Tagen geht die Zahl der Neuinfektionen deutlich zurück, auch die der Toten sinkt. In Schweden atmen die Menschen erst einmal auf.
Schwedens Sonderweg bei Grundschulen und Kindergärten
Zurück in Gustavsfors im Westen des Landes: Johanna Emanuelsson ist Lehrerin. Seit vier Wochen hat sie Ferien. Wie viele hier verbringt sie den Sommer zuhause. Das ganze Frühjahr über ist sie aber jeden Tag zur Arbeit gefahren, denn Schweden ließ alle Grundschulen bis Klasse neun und alle Kindergärten offen. Und das mit einem erstaunlichen Ergebnis: "Wir hatten noch nie so gesunde Kinder wie in der letzten Zeit. In der Schule haben wir ja sonst ständig irgendwelche Krankheiten. Aber jetzt sind alle mit dem kleinsten Schnupfen zuhause geblieben. Meist sogar noch einen Tag extra. Die Klassen waren nach der ersten Phase, in der viele Kinder zuhause waren, so voll wie sonst kaum", erinnert sich Johanna Emanuelsson.
Die offenen Schulen und Kindergärten zählen für die Schweden zum Erfolg ihres Sonderwegs. Aber wirtschaftlich steht das Land vor schwierigen Zeiten. Die Arbeitslosigkeit könnte bis Ende des Jahres auf mehr als zehn Prozent steigen. Ingela Andrée versucht der Krise trotz allem etwas Positives abzugewinnen: "Ich hoffe, dass es auch eine Veränderung im Land gibt. Die Leute leben heute anders. Das gilt auch für mich. Immer mehr kaufen online ein. Vielen Geschäften geht es deshalb nicht gut. Aber ich glaube wir haben uns doch einigermaßen behauptet." Die Menschen kaufen wieder häufiger bei ihr ein. Schweden erlebt eine Stadtflucht, gerade jetzt im Sommer. Aber wie der Herbst wird weiß keiner. Die Unsicherheit bleibt.
Autor: Christian Stichler, ARD-Studio Stockholm
Stand: 19.07.2020 20:15 Uhr
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