So., 19.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
USA: Kalifornien – Problemfall statt Musterschüler
Als Corona sich im Frühjahr in den USA ausbreitet, gilt der Bundesstaat Kalifornien anfangs als Musterschüler. Gouverneur Gavin Newsom von der demokratischen Partei verkündet Einschränkungen im öffentlichen Leben, die meisten Kalifornier halten sich daran, die Ansteckungszahlen bleiben niedrig. Dann übernehmen die Städte und Landkreise die Entscheidung über mögliche Lockerungen, und bald geht das Leben in Kalifornien genauso weiter wie vor der Pandemie. Inzwischen ist der Bundesstaat zum Problemfall in den USA geworden.
Weintrauben sind eine kalifornische Köstlichkeit. Die Erntehelfer schuften für 13 Dollar pro Stunde unter der sengenden Sonne. Viele kamen aus Lateinamerika illegal über die Grenze, haben bis heute keine Papiere. Ohne ihre Arbeitskraft wäre die Landwirtschaft hier schnell am Ende. Drei Autostunden östlich von Los Angeles in der Wüste liegt das Coachella-Tal. Weil es hier 50 Grad heiß wird, fangen die Arbeiter schon morgens um fünf Uhr an zu arbeiten. Auch wegen der vielen Corona-Fälle wurden ihre Schichten in den Plantagen verkürzt.
Erntehelfer: Dichtgedrängt in Trailerparks
Patricia Rivas war seit Monaten nicht mehr arbeiten. Sie muss sich um ihre Töchter kümmern, seit Schulen und Kindergärten geschlossen haben. Ihr Mann ist Mechaniker, sein karger Lohn reicht nicht für die Familie. Doch noch größer als ihre finanzielle Not ist Patricias Angst vor dem grassierenden Virus: "Die Feldarbeit ist sehr riskant. Wir arbeiten zwar regelrecht vermummt, aber alle sind so dicht zusammen, man ist nicht wirklich geschützt. Allein die Toiletten sind gefährlich. Ich habe gehört, dass sich da welche infiziert haben. An Sicherheitsabstand ist hier nicht zu denken!"
Auch die Unterkünfte sind problematisch in Zeiten einer Pandemie. Dichtgedrängt in Trailerparks – so sind die meisten Erntehelfer untergebracht. Hie lassen sich Infizierte kaum isolieren. Familie Rivera hatte Glück, sie ist in einer Sozialwohnung untergekommen. Die Miete hat erstmal eine Wohlfahrtsorganisation übernommen. Trotzdem macht sich Patricia große Sorgen, denn die Nachrichten zeichnen ein dramatisches Bild von der Corona-Krise in Kalifornien. "Ich glaube, die Fallzahlen steigen, weil die Menschen das Virus nicht ernstnehmen! Die gehen wieder raus und feiern, die Casinos waren wieder auf, auch Restaurants und Bars. Die Menschen treffen sich also wieder und vergessen all die Vorsichtsmaßnahmen. Sie haben einfach nicht genug Angst."
Coronakrise rückt Millionen an den sozialen Abgrund
Kalifornien habe die Krise zunächst gut gemeistert, findet Patricia. Dann habe der Gouverneur aber viel zu früh wieder aufgemacht. Dadurch erlebe man nun beides: bedrohlich steigende Infektionszahlen und Verunsicherung auf dem Arbeitsmarkt.
Schier endlos sind die Autoschlangen, wo immer Essen an Bedürftige verteilt wird. Die Coronakrise rückt Millionen Amerikaner an den sozialen Abgrund: Das Geld reicht noch für Benzin, aber nicht mehr für die Miete. Da sind Lebensmittelspenden hochwillkommen. "Es läuft gut, aber ziemlich hektisch. Zwei Teams arbeiten wie um die Wette. Wir erwarten heute 650 Autos", sagt Claudia Castorena von der Hilfsorganisation Galilee Center.
Hilfe durch Lebensmittelspenden
Auch Patricia holt sich eine Wochenration. Nur für die Fahrt zur Foodbank verlässt die junge Mutter mit ihren Kindern das sichere Haus. "Sie haben mir Eier und Würstchen mitgegeben, Früchte, Gemüse, Suppen, Reis und Kaffee. Ich weiß nicht, wie wir ohne diese Spenden über die Runden kommen sollten. Wir müssten den Gürtel wohl noch enger schnallen."
Patricia und die Erntehelfer im Coachella-Tal könnten auch Kaliforniens staatliche Corona-Hilfe beziehen. Doch sie scheuen Fragebögen und Formulare, da ihnen die US-Aufenthaltsgenehmigung fehlt. Und so ackern sie weiter in der Hitze und können nur hoffen, dass sie vom Virus verschont bleiben.
Autor: Stefan Niemann, ARD-Studio Washington
Stand: 20.07.2020 17:21 Uhr
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