So., 28.04.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Japan: Wenn die Sexualkunde ausfällt
Sexualkunde schmückt den Stundenplan der der Kōnan-Mittelschule in Tokio – kein normaler Unterricht. Im Land der rückständigsten Sexualaufklärung unter allen Industriestaaten steigt die Erregung – oder auch nicht. Stattdessen gibt es intellektuelle Selbstbefruchtung: Männlein und Weiblein sitzen an getrennten Tischen – und von den Eltern gibt es keine Anleitung: "Zuhause kann ich nicht darüber sprechen. Ich habe auch keine älteren Geschwister", sagt die 14 Jahre alte Schülerin Rui Onuma. "Im Unterricht gehen wir auf gewisse Themen nicht so tief ein. Aber im Internet, da gibt’s ja viele Seiten mit Altersbeschränkung. Die kann man oft umgehen, und dann schauen wir es uns an", ergänzt der gleichaltrige Kaiji Matsubara.
Sex, Geschlechtsverkehr, Verhütung, Abtreibung – alles tabu
Neunte Klasse, pubertierende Teenager, umgeben von Zeichentrick- und Online-Pornos – nur der Pädagoge, der darf nichts sagen: Sex, Geschlechtsverkehr, Verhütung, Abtreibung ist tabu. Es ist paradox: Aber das Ziel des japanischen Sexualkundeunterrichts ist ganz offensichtlich, so wenig wie möglich aufzuklären. "Man fürchtet, dass zu viel Wissen zu einem Anstieg ungewollter Schwangerschaften führt. Aber viele Mädchen erleben diese erst wegen falscher Informationen. Solange Sexualität in der Familie nicht richtig besprochen wird, hielte ich es für die Aufgabe der Schulen, über das Thema aufzuklären", sagt Lehrer Ryohei Yoneyama.
Darf der Lehrer aber nicht, also entsteht ein Vakuum. Das füllen Exhibitionisten, falsch benutzte Kondome, Abtreibungen, Chlamydien, Syphilis.
Sexualkunde-Unterricht für Mütter
Damit ihren Kindern das nicht passiert, sitzen Mütter im Workshop von Nami Nojima. Die Ex-Krankenschwester geht gnadenlos unter die Gürtellinie: "Wie sag ich’s meinem Kind?", wenn das permanent an sich rumspielt oder mit zehn schon dauernd Pornos guckt? Wie nur im Land der institutionalisierten Scham? "Viele Mütter haben Probleme, darüber zu sprechen. Sie haben es ja als Kind auch selbst nie erlebt", sagt Nami Nojima, Veranstalterin des Sexualkunde-Unterrrichts. Zwanglose Atmosphäre, spielerisch Hemmungen abbauen, an Selbstsicherheit gewinnen. - Nojima therapiert gewissermaßen erst mal die Eltern, bevor die sich um ihre Kinder kümmern: "Ich wusste nichts. Als ich zum ersten Mal meine Regel bekam, dachte ich: Einmal, und es ist vorbei. Traditionell kochte meine Familie dann aus dem Anlass roten Reis. Ich kapierte gar nicht, was los war", lacht Kursteilnehmerin Asako Ushiyama.
Dank des Workshops und des anschaulichen Kartenspiels von Frau Nojima fällt Asako Ushiyama die Sexualaufklärung ihrer Tochter nun deutlich leichter. Und die ist nun besser vorbereitet auf den Übergang vom Kind zur Frau: "Das stimmt, in der Schule nehmen wir das nicht durch. Aber es ist besser, das zu lernen, das habe ich jetzt verstanden. Denn wenn ich lerne, wie ein Kind entsteht, dann weiß ich auch, wie ich ein Kind bekomme", sagt Kanon Ushiyama. Die Zehnjährige hat sie jetzt, die Orientierung, auf die so viele andere noch warten. Denn es geht ja nicht nur um Sex zwischen Mann und Frau, es geht auch um Gefühle.
Klima der Verklemmtheit
"Ich fände es wichtig, mehr über die Dinge zu wissen, die man nur als Frau erlebt. Wie wird sie schwanger, und was passiert danach, auch die Schmerzen. Das wäre wichtig, um das andere Geschlecht besser zu verstehen und mehr Sympathie füreinander zu entwickeln", sagt Schüler Kaiji Matsubara. Sympathie ist schwierig in einem Klima der Verklemmtheit, in dem Kinder sich nicht trauen zu fragen, Eltern nichts sagen und die Schulen dafür sorgen, dass es so bleibt. Dabei geht es hier – diese Mütter haben es begriffen – doch nur um die natürlichste Sache der Welt.
Sünde: Ein Begriff des Westens und des Christentums
Japan war nicht immer so prüde. Es gab "Shunga", die alten Erotik-Gemälde – Mann und Frau in Lust und Liebe vereint, ganz offen und wenig monogam. Das ändert sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Westen und das Christentum bringen auch das Bewusstsein der Sünde mit. Vorbei ist der Spaß. Prof. Noriko Hashimoto kennt und besitzt jedes Aufklärungsbuch. Japan war auf einem guten Weg – bis zur Ankunft eines Moralapostels: "Das Sexualkunde-Bashing begann Anfang der 2000er-Jahre. In den USA übernahm die Regierung Bush und das wirkte sich auch auf die Erziehung in der Sexualmoral aus. Denn vieles wurde auch in Japan übernommen", erklärt die Soziologin.
Es dauerte nicht lang, bis die erzkonservative Abgeordnete Eriko Yamatani ihren Chef auf den – aus ihrer Sicht – ganzen "Schmutz" in japanischen Schulbüchern hinwies. Und der damalige Premier, ein selbsterklärter Reformer, pflichtete Ihr bei: "Ja, diese Lehrmittel gehen ein wenig zu weit. Ich hatte ja gar keinen Aufklärungsunterricht. Aber irgendwie haben wir es trotzdem mitbekommen. Und auch so hingekriegt", sagt er Yunichiro Koizumi, Japans ehemaliger Regierungschef 2005.
Keine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau
Wenig später stand Generalsekretär Abe, heute Premier, angewidert vor den Attrappen modernen Biologie-Unterrichts – mit dem Auftrag, die "problematischen" Materialien aus dem Verkehr zu ziehen. Der Coitus interruptus in Sachen japanischer Aufklärung war perfekt. Und mit ihm der Entwurf einer fortschrittlichen Gesellschaft: "Männer und Frauen müssen gleichberechtigt sein, erst dann kann man auch über den Körper sprechen. Sexualkunde basiert auf Gleichberechtigung. Aber das stört wohl die Konservativen. Wirkliche Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gilt ihnen als absolut inakzeptabel", erklärt Prof. Noriko Hashimoto.
Sex ohne Kondom – in Japan normal
Diese Haltung spiegelt auch Japans Pornoindustrie. Ein Besuch in den einschlägigen Vierteln Tokios mit Sexualkundlerin Nojima zeigt: Mädchen existieren hier nur als männliche Projektionsfläche: jung, willig, stets üppig ausgestattet. Und in dieser Orgie sucht man den Hinweis auf ein Kondom natürlich vergeblich: "'Ohne' gilt in Japan als normal. Das ist fest verankert. Denn das Wissen kommt ja vor allem aus Videos und Comics. Die meisten Kinder glauben: Schwanger, das kann mir nicht passieren, egal, wie oft ich Sex habe, oder: eine Geschlechtskrankheit bekomme ich schon nicht", sagt Nami Nojima.
Autor: Uwe Schwering, ARD Studio Tokio
Stand: 27.04.2019 14:46 Uhr
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