So., 28.04.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Wenn die Berufsschule mit dem Schiff kommt
Es ist hier im Amazonas wie ein Gesetz: Alles, was die Menschen erreichen soll, muss schwimmen können. Sogar die Berufsschule schwimmt. Brasiliens einziges Ausbildungsschiff steuert die Amazonasgemeinde Caapiranga an. Hier wird es drei Monate lang fest vertäut sein. Gerade noch rechtzeitig zum Schulbeginn trudeln die letzten Schüler per Boot ein.
Sabrina de Oliveira und ihre Cousine Andressa Moraes de Ferreira aben schon eine Stunde Fahrt hinter sich. Jetzt sind sie aufgeregt. Es ist ein besonderer Morgen: Zum ersten Mal überhaupt hat die schwimmende Berufsschule in ihrem Örtchen Caapiranga Halt gemacht. Direktor Robson Gadelha erklärt den Schülern, worauf es ankommt: "Nutzt diese Ausbildung! Sie ist der Grund, warum wir hier angelegt haben. Wer aufpasst, profitiert davon auch im normalen Leben: sozial und psychologisch."
Zum ersten Mal an einem Computer
Sabrina hat einen Computer-Kurs gewählt. Die Ausbildung beginnt für sie gleich mit einer Premiere: Denn eine Tastatur hat sie vorher noch nie benutzt: "Ich will das lernen, weil ich davon keine Ahnung habe. Da wo ich herkomme, haben wir gar keine Computer. Wir haben zwar Strom, aber sowas hier nicht." Tippen, Tabellen erstellen, Recherche im Netz. Nirgendwo anders können sie das lernen. „Es ist schön, zu sehen, dass diejenigen, die nie etwas mit PCs am Hut hatten, hier Stück für Stück Erfahrungen sammeln und sich so weiterentwickeln", sagt Lehrerin Cristina Savaiva.
Nebenan, im Kurs für Gastronomie, werden Maniokwurzeln gekocht und Açai-Beeren zu einem Nachtisch verarbeitet. Zwölf Wochen haben sie jetzt Zeit: Auf dem Lehrplan stehen auch Lebensmittelhygiene und die Budgetplanung. „Wir kochen bewusst Rezepte mit regionalen Zutaten. Damit können die Schüler irgendwann ein kleines Lokal aufbauen und das Familieneinkommen aufbessern", erklärt Lehrerin Antonia Erilene. Das ist das Ziel von der Azubis wie Sabrina und Andressa: Irgendwann genügend Geld zu verdienen – unabhängig werden. "Ich will etwas im Leben erreichen. Anders als viele hier, die Drogen nehmen, will ich meine Familie unterstützen", sagt Andressa Moraes de Ferreira
Andrang herrscht beim Kurs für Friseure. Waschen, schneiden, föhnen. Es ist die einfachste Art, sich in den Amazonas-Dörfern selbstständig zu machen. Deshalb gab es auch drei Mal mehr Bewerber als Plätze. "Ein einziges Ausbildungsschiff ist leider nicht genug, für all die Amazonas-Städte, die Bedarf haben. Deshalb wäre es wichtig, wenn wir mehr schwimmende Berufsschulen in Dienst nehmen könnten", sagt Robson Gadelha von der Hochschule für Handel.
Der erste Schultag ist geschafft. Ein Freund der beiden nimmt sie mit zurück in ihr Dorf. Eine Stunde dauert die Fahrt – auf dem einzigen Stück Asphalt, der einzigen Straße, die es weit und breit gibt. Errichtet durch einen Ölkonzern, der hier Gas fördert. Da, wo die Straße abrupt endet und dahinter nur noch dichter Dschungel liegt, leben Andressa und Sabrina.
Ohne Ausbildung nur Hausfrau oder Bäuerin
In Brasilien gilt zwar die Schulpflicht, aber hier im Amazonas gibt es für junge Leute wie Sabrina nach der Schule kaum Weiterbildungsmöglichkeiten. Zuhause warten schon Sabrinas Kinder. Die 22-Jährige zieht beide allein groß. Ihre Schwester hilft ihr, damit sie in den kommenden Wochen die Ausbildung auf dem Berufsschulschiff absolvieren kann. Den Frauen, die hier aufwachsen, bleiben meist nur zwei Optionen: Hausfrau oder Bäuerin. Sabrina aber hat einen anderen Traum: Irgendwann als Krankenschwester im Gesundheitszentrum zu arbeiten: "Das wäre natürlich klasse, wenn ich nach weiteren Seminaren einen Job bekäme. Das würde meiner gesamten Familie helfen." er Computer-Kurs soll da nur der Anfang sein. Sabrina will mehr erreichen als ihre Mutter, die ein Stück Land bewirtschaftet. "eine Mutter musste die Schule nach sechs Jahren beenden. Sie erzählt mir immer, dass sie das bereut. Denn sie kann zwar mittlerweile ihren Namen schreiben, aber sie kann nicht lesen."
Auch für Sabrinas Cousine Andressa sind die Schicksale der Älteren Ansporn genug, sich reinzuhängen. Sie arbeitet nebenbei als Babysitterin. Und mit dem Abschlusszeugnis in drei Wochen will sie ihrem Traum ein Stückchen näherkommen: "Ich will Anwältin werden. Das findet auch meine Familie gut. Anwältin oder Marinesoldatin."
Für die Flussbewohner ist die Berufsschule kostenlos. Finanziert wird sie durch eine Steuer, die Unternehmen zahlen müssen. Nach den Abschlussprüfungen fährt das Schulschiff weiter. In ein anderes Amazonas-Städtchen, in dem junge Menschen ihre Träume umsetzen wollen.
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 03.05.2019 14:50 Uhr
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