So., 28.04.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Russland: Angst vor China am Baikalsee
Der Baikalsee erwacht in diesen Tagen aus dem Winterschlaf. Langsam zieht sich das Eis zurück. Doch deutlich sichtbar wird auch etwas anderes: Das sensible Moorgebiet am Seeufer ist von gigantischen Rohrleitungen zerschnitten. Es sind Bauarbeiten für die erste von vermutlich zehn geplanten Wasserabfüll-Fabriken. Trinkwasser aus dem Baikal-See, 80 Prozent davon für den Export, vor allem nach China. Der Biologe Witalij Rjabzew erklärt uns, wie das funktioniert: "Durch die Rohre wird Wasser gepumpt. Die Idee der Fabrik ist, Wasser aus der Tiefe des Sees zu entnehmen. Doch um dahin zu gelangen, müssen sie etwa 2,5 Kilometer Flachwasserbereiche durchqueren."
Massenhafte Proteste gegen chinesische Pläne
Gerade um diese Bereiche macht sich der Biologe große Sorgen. Seit Jahren zählt er immer weniger Vögel, wenn er zum Beobachten hier an den südlichen Teil des Baikalsees fährt. Auch Algen sind für ihn ein Zeichen, dass der See nicht mehr ganz gesund ist. "Hier lagern 20 Prozent des Süßwassers weltweit, an nur einem Ort. Das gibt es kein zweites Mal auf der Erde. Der Baikalsee ist der Brunnen unseres Planeten – und so müssen wir ihn behandeln. Die Ufer müssen sauber sein, ohne Müll und dürfen nicht zugebaut werden. Andernfalls verlieren wir dieses Wunder der Natur."
Seit Monaten kämpfen Rjabzew und Anwohner aus dem Ort Kultuk gegen die Fabrik, die einem chinesischen Geschäftsmann gehört. Eine Petition haben mehr als eine Million Menschen unterschrieben. Sie haben erreicht, dass der Bau vorläufig gestoppt ist. Doch die endgültige Entscheidung steht noch aus. "Dass die Fabrik einer chinesischen Firma gehört, hat den massenhaften Protest hervorgerufen, vor allem bei denen, die die Petition unterschrieben haben. So viele Unterschriften gab es bisher hier nicht. Das ist der Protest der Sibirer gegen die chinesische Expansion, die zurzeit geschieht", erklärt Rjabzew.
Der Biologe trifft den Aktivisten Stanislaw Filippow, der Unterschriften gesammelt hat. Er will die Staatsanwaltschaft dazu bringen, alle geplanten Fabriken zu überprüfen. "Wir haben noch Hoffnung. Unser Ziel ist, dass das Moor zum geschützten Gebiet erklärt wird", sagt Filippow. Auf diesem Weg haben Filippow und die anderen Aktivisten schon den ersten Erfolg erzielt. Ein Gericht hat wegen fehlerhafter Gutachten den Baustopp der ersten Fabrik verhängt – gegen den Willen des chinesischen Eigentümers. "Ich verstehe nicht, wir haben gesetzmäßig und gemäß dem Prozedere alle notwendigen Dokumente bekommen. Was passiert hier?", sagt Jiui Gofa, Generaldirektor der Firma "AquaSib".
Tourismus: Täglich kommen Tausende Chinesen
Nicht nur für chinesische Geschäftsleute ist der Baikalsee ein Anziehungspunkt. Jedes Jahr besuchen mehr als eine Million Touristen den See – im Sommer wie im Winter. Die meisten ausländischen Touristen kommen aus China. Listwjanka ist der wichtigste Touristenort am Baikalsee. In der Hauptsaison im Sommer kommen täglich Tausende Chinesen. Immer mehr Hotels gehören chinesischen Geschäftsleuten. Auch vor dem Gästehaus von Andrej Suchanow entsteht eines. Die Bauarbeiten wurden nach Protesten vorläufig gestoppt, weil es nur als Privathaus, nicht als Hotel genehmigt war. Doch Suchanow kann den Baikalsee trotzdem nur noch vom Treppenabsatz sehen: "Ich bin extra zum Baikalsee gezogen, um hier zu leben und jeden Morgen den Blick auf den See zu genießen. Und sie haben mir die ganze Sicht versperrt." Suchanows Gästehaus steht im Winter meist leer – zu viel Konkurrenz durch die neuen Hotels, sagt er.
"Man soll ja eigentlich nicht sagen, dass wir Chinesen nicht wollen. Nur früher gab es sie hier nicht, jetzt sind sie aufgetaucht. Wenn wir sie hier haben wollen, dann sollten wir für sie ein eigenes Dorf an einem anderen Ort am Baikalsee bauen. Einfach, weil es so viele sind", erklärt Suchanow. Die Menschen am Baikalsee fühlen sich überrannt. Denn die chinesischen Nachbarn verhielten sich zu wenig wie Gäste.
Baikalsee als Spielball wirtschaflicher Interessen
Auch in Kultuk hat die geplante Fabrik eine anti-chinesische Stimmung ausgelöst. Doch noch mehr fühlen sich Stanislaw Filippow und die anderen von ihren eigenen Politikern betrogen, die falsche Versprechungen gemacht hätten: "Die Leute hier glauben nicht, dass es neue Arbeitsplätze gibt. Die Chinesen werden ihre eigenen Leute mitbringen." Ein Gutes bleibe, sagt Filippow: Der Streit um die Fabrik habe den Bewohnern von Kultuk gezeigt, dass sie gemeinsam etwas erreichen können.
Der Baikalsee – Trinkwasservorrat und Heimat für Natur und Menschen. Doch die Menschen erleben, wie der See immer mehr zum Spielball wirtschaftlicher Interessen wird.
Autor: Demian von Osten, ARD-Studio Moskau
Stand: 28.04.2019 20:21 Uhr
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