Mo., 22.10.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Die Nenzen – Nomaden am Polarkreis
Der Klimawandel macht es möglich: Russland fördert immer mehr Gas am Polarkreis und unterhält mittlerweile Mega-Gasförderprojekte auf der Halbinsel Jamal in der Arktis. Die Halbinsel birgt große Gas- und Ölvorkommen. Inzwischen treffen die Nomadinnen und Nomaden auf ihren Wanderungen auf zerstörte Natur und gigantische Industrieanlagen. Doch nicht alle Nenzen sind darüber unglücklich. Denn ihren Kindern eröffnen sich nun auch neue Chancen.
Die Rentiere bedeuten den Nenzen alles
An einem Lagerplatz finden sich die Nenzen und ihre Rentiere in einem großen Kreis zusammen. Jeder packt mit an. Die Rentiere bedeuten den Nenzen alles. Der junge Raman kümmert sich erst einmal um sein Lieblingsrentier und auch seine Mutter Nekotscha ist gleich zur Stelle: "Nach drei Tagen werden wir weiterziehen, sonst verderben wir den Boden und werden nächstes Jahr nicht mehr herkommen können."
Sie werden weiterziehen, aber ohne den zehnjährigen Sohn Raman. Für ihn ist es der letzte Tag mit seinen Tieren und seiner Familie. Der Sommer ist zu Ende. Der Hubschrauber kommt aus der Kreisstadt und bringt die Kinder zur Schule. "Eine neue Zeit ist angebrochen. Die Kinder müssen lernen. Sie werden in der Zukunft wohl kaum noch so viele Rentiere haben, wie wir, denn in der Tundra werden immer mehr Bohrtürme hochgezogen, Gas gefördert. Darunter leiden die Rentiere", sagt Mutter Nekotscha.
"Im Internat weine ich vor Sehnsucht"
Trotzdem halten Nekotscha und ihr Mann an ihrem Leben als Nomaden fest und ziehen das ganze Jahr durch die Tundra über die Halbinsel Jamal, im Winter sogar bei bis zu minus 50 Grad. Ihren Sohn Raman bereiten sie behutsam auf das Leben in der Stadt vor, obwohl er am liebsten hier draußen ist in der freien Natur. Er kennt mittlerweile schon jeden Handgriff. "Unsere zwei Großen sind schon Studenten. Raman, unser jüngster Sohn kommt jetzt in die 5. Klasse, aber er ist lieber in der Tundra bei den Rentieren", sagt Nekotscha.
Der Abschied fällt ihnen schwer. Raman hat sein eigenes Rentier, seinen eigenen Hund und seine Freiheit – den ganzen Sommer. "Im Internat weine ich vor Sehnsucht. Aber mir gefallen die Fächer Technologie und Mathe am besten. Damit beschäftige ich mich im Internat. Ich will Pilot werden", sagt Raman. Um dann eines Tages mit einem Hubschrauber über die Tundra zu fliegen und die Kinder zur Schule zu bringen. Davon träumt Raman schon lange.
Klimawandel sowie Öl- und Gasfirmen bedrohen Lebensraum
Aber wie lange wird das Leben in der Tundra noch möglich sein? Seine Eltern machen sich Sorgen um die Tiere. Der Klimawandel ist längst spürbar. Außerdem breiten sich immer mehr Öl- und Gasfirmen in der Tundra aus. Man sieht wie sich der Rauch aus den Türmen auf den Schnee legt und eine harte Kruste bildet, sodass die Rentiere nicht ans Futter kommen. Ihre Fettschicht ist nur noch ein Zentimeter, früher waren es drei bis vier Zentimeter. Viele sterben. Am Ende bleibt uns Nichts. Die Rentiere sind aber unser ein und alles – Nahrung, Kleidung, Verkehrsmittel.
"Ich werde immer in die Tundra zurückkehren, um meine Familie zu besuchen. Aber meine Zukunft sehe ich hier nicht. In der Schule rät man uns davon ab, in der Tundra zu leben. Lernt weiter, sagen sie uns", erzählt Victoria, Schwester von Raman. Im Nachbarzelt gibt es einen Kindergarten. Auch das gab es früher nicht. Die Kleinsten werden so auf die Schule vorbereitet.
Die Veränderungen in der Tundra sind ein Dauerthema. Vor allem in diesem Jahr war das Wetter ungewöhnlich. Der Permafrost schmilzt. Es bilden sich immer mehr Seen, klagt Anna. Auch ihre großen Kinder leben längst in der Stadt. "Um die Tiere zu retten, müssen wir immer neue Gegenden aufsuchen. In diesem Jahr mussten wir sogar im Frühjahr umziehen, um neue Weiden zu finden. Es ist also wichtig, dass unsere Kinder Berufe erlernen, Diplome machen, auch wenn sie in der Tundra leben wollen. Denn man weiß nie, wie es weitergeht", sagt Anna aus dem Nachbarzelt.
Ein Hubschrauber sammelt die Kinder ein
Dann kommt der Hubschrauber. Er sammelt die Kinder ein. Nekotscha weiß, dass sie ihren Sohn nun monatelang nicht sehen wird, denn sie wird ihrem Mann helfen müssen bei ihrem anstrengenden Treck durch die Tundra. Für die Besatzung ist es schwierig, die kleinen Lager, die über die ganze Halbinsel Jamal verstreut sind, ausfindig zu machen, da die Nomaden ihren Standort ständig wechseln. Da der Permafrost auftaut, entstehen Seen, wo früher keine waren.
Die Eltern ziehen mit den Rentieren weiter. Nekotscha führt den Treck an – Richtung Norden, Tausende Kilometer bis zum Polarmeer. Bald werden die Weiden schneebedeckt sein. Der Winter steht ihnen bevor und eine ungewisse Zukunft in der Tundra.
Im Internat heißt es für Raman jetzt stillsitzen. Damit die Nomadenkinder ihre Sprache nicht verlernen, werden einige Fächer sogar in ihrer Sprache unterrichtet. Vera unterrichtet hier seit 25 Jahren. Sie will, dass die Kinder stolz sind auf ihre Herkunft, stolz sind auf die Kultur der Nenzen. Die ersten Tage sind für Raman die schlimmsten. In Gedanken ist er noch in der Tundra. Nur seine Schwester gibt ihm halt: "Als ich klein war, hat man oft tagelang keine Menschenseele gesehen. Heute sieht man Bohrtürme, Rauch. Einerseits ist es gut, dass für das Land Erdöl gewonnen wird. Das bringt Geld. Andererseits ist unser Boden nicht mehr der alte. Natürlich mache ich mir Sorgen deshalb, weil dort unsere Rentiere weiden", sagt Victoria.
Autorin: Birgit Virnich, ARD Studio Moskau
Stand: 29.08.2019 02:02 Uhr
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