So., 24.09.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Armenien/Aserbaidschan – Bergkarabach: Kein Frieden für den Kaukasus
Zuhause falle ihnen nur die Decke auf den Kopf, sagen Sarine und Roxy. Die beiden Freundinnen wollen raus, irgendwas tun. Sie haben vor drei Jahren ihre Heimat Bergkarabach verlassen, leben seitdem in der Hauptstadt Eriwan. Von ihren Verwandten und Freunden dort hören sie Schreckliches: "Die Städte und Dörfer sind blockiert. Ich höre, dass sie sich verstecken mussten im Wald und nicht zurückkönnen", sagt Sarine. Und Roxy erzählt: "Man kann sich das kaum vorstellen, die Situation dort ist schrecklich. Sie können nicht zur Toilette gehen, es gibt kein Wasser, kein Waschbecken, keine Schlafmöglichkeit. Unwürdig. Meine Familie schläft im Auto."
Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan in der Kritik
Jeden Tag versuchen die beiden Kontakt aufzunehmen zu ihren Verwandten – über das Internet. Aber wie so oft, auch jetzt, gibt es keinen Empfang. Wenige Hundert Meter entfernt versammeln sich Tausende auf dem Platz der Republik. Ihr Protest richtet sich wie seit Tagen schon gegen Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan. Sie werfen ihm Verrat, Untätigkeit vor. Er lasse die ethnischen Armenier in Bergkarabach im Stich, schimpfen die Demonstranten. Zwischenzeitlich hat die Polizei 300 Menschen festgenommen. Eine Situation, die jederzeit weiter eskalieren könne, befürchten Beobachter: "Es gibt überall Demonstrationen, Studenten gehen auf die Straße, rufen ihre Parolen. Die Polizei ist einigermaßen zurückhaltend, wendet im Moment keine Gewalt an. Aber das könnte passieren. Ich denke, das ist eine schwere Krise auf allen Ebenen", sagt Arthur Khachikian, Politikwissenschaftler an der Universität Stanford.
Wo liegt Bergkarabach? Seit Jahrzehnten wird erbittert um die Region gekämpft – mit der Kapitulation Bergkarabachs am Mittwoch endet dieser Kampf vorläufig. Rund 120.000 Karabach-Armenier sind jetzt eingeschlossen, Tausende mussten ihre Dörfer wegen der Bomben-Angriffe verlassen, leben nun in einem von russischen Soldaten bewachten Flüchtlingslager.
Flüchtlinge aus Bergkarabach kommen nach Armenien
Wir fahren ins Grenzgebiet, etwa vier Autostunden von der Hauptstadt entfernt. Zelte stehen bereit, falls Flüchtlinge aus Bergkarabach hier ankommen sollten. Seit Tagen warten Menschen vor dem Checkpoint auf ihre Verwandten und Freunde. In der Grenzstadt Goris kennen sie diese Situation schon. 2020 – bei der letzten kriegerischen Auseinandersetzung um Bergkarabach – kamen schließlich Tausende Flüchtlinge an und mussten versorgt werden. Bäckerin Rima hat damals nicht lange gewartet: Sie hat Brot gebacken, für ihre Landsleute wie sie sagt: "Wir haben damals bei dem Krieg rund um die Uhr Brot gebacken, für die Soldaten, für die Verletzten, für die Flüchtlinge, für alle, die über die Grenze hier zu uns kamen." Das will sie wieder tun, sollten die ersten Menschen Bergkarabach Richtung Armenien verlassen können. Dafür haben sie in der Bäckerei bereits Mehl auf Vorrat eingekauft – für Lawasch, das traditionelle armenische Brot, das den Flüchtlingen über die ersten Tage helfen soll.
Zurück in der Hauptstadt. Roxy wagt einen neuen Versuch, ihre Mutter anzurufen. Eine wacklige Verbindung, ohne Video, aber immerhin: Sie steht für einen kurzen Moment.
Roxy: "Habt ihr was gegessen?''
Antwort: "Ach Gott. Alles ist gut. Wir danken Gott dafür, dass wir am Leben sind."
Roxy: Wie findet Ihr überhaupt was zu essen?
Antwort: Wir sammeln Holz und machen ein Feuer. Irgendwie kriegen wir das immer hin.
Offenbar Verhandlungen im Hintergrund
Sarine und Roxy haben sich unter Demonstranten in der Hauptstadt gemischt. Ob diese Proteste etwas bringen? Die beiden sind skeptisch: "Es ist der dritte Tag, an dem diese Leute auf die Bühne gehen und sinnlose Dinge schreien, wie 'Nikol ist ein Verräter!', was bringt es?". Es wäre besser, wenn sie fordern würden, was die Menschen in Bergkarabach wollen: Die Evakuierung! Das sollten sie fordern", sagt Sarine.
Offenbar wurde im Hintergrund weiter verhandelt, denn am Nachmittag konnten die ersten Flüchtlinge aus Bergkarabach über den Latschin-Korridor nach Armenien kommen. Wie viele es sind, ob weitere folgen – zur Stunde ist das unklar. Sarines und Roxys Verwandte jedenfalls sind nicht darunter. Die beiden senden ihnen weiterhin Kraft nach Bergkarabach. Die Menschen dort werden sie brauchen.
Autor: Marius Reichert, ARD/WDR
Stand: 24.09.2023 19:17 Uhr
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