So., 24.09.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
USA: Prothesen für ukrainische Kriegs-Opfer
Der Krieg gegen die Ukraine fordert weiterhin viele Opfer. Zivilisten und Soldaten verlieren bei den Angriffen Gliedmaßen, sind deswegen für den Rest ihres Lebens eingeschränkt. Einer von ihnen ist Ilia Mykhalchuk, der im Februar beide Arme verlor. Jetzt wird er in den USA behandelt.
Eine alte Zahnbürste, eine Wäscheklammer. Selbst anzünden kann Ilia Mykhalchuk seine Zigarette nicht. Sein Schwager Andrii muss helfen, er begleitet ihn in den USA. Ilias Alltag - Ausnahmenzustand, seit er im Februar in Kriegsgefangenschaft geriet. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen. "Meine Erinnerungen bestehen nur aus Fragmenten. Mein Gesicht war verbrannt. Ich hatte so viele Probleme. Ich konnte über nichts nachdenken."
Die Verletzungen im Gesicht sind nicht das Schlimmste. In der Nähe der heftig umkämpften Stadt Bachmut gerät er Ende Februar in einen Hinterhalt. Der rechte Arm sei schon nach dem Angriff zerfetzt gewesen. Aber: Der linke hätte mit schneller medizinischer Hilfe gerettet werden können, glaubt Ilia. Es seien die berüchtigten Wagner-Söldner gewesen, die ihn verschleppt hätten, so seine Version. Die Arme seien ihm in einem Keller amputiert worden. "Der Schock kam später, als mir klar wurde, welche Ungerechtigkeit mir widerfährt: Dass sie keine richtige Hilfe geleistet haben. Ich vermute, man hätte den linken Arm retten können. Anscheinend waren die Bänder und die Knochen noch in Ordnung. Denn ich konnte meine Finger bewegen."
US-Spezialzentrum für Prothesen unterstützt
Ilia hofft, jetzt ein Stück Unabhängigkeit zurückzugewinnen. In einem US-Spezialzentrum für Prothesen. Jamie Vandersea ist Spezialist für Armprothesen. Er kümmert sich um Ilia und andere verwundete Soldaten. Die Behandlung ist für sie kostenlos. Dass Ilia beide Arme kurz unter der Schulter amputiert wurden ist eine Herausforderung. Um zu verstehen, wie schlimm die Verletzungen sind, misst er – vereinfacht gesagt – Muskelsignale. "Mein Ziel für Ilija ist, dass er vor seiner Abreise alleine ein Glas oder eine Flasche voll Wasser vom Tisch heben und ohne Hilfe trinken kann. Und alleine Essen kann." "Das macht mich sehr glücklich", übersetzt die Dolmetscherin.
"Ja, das ist unser Ziel. Es wird allerdings Arbeit", antwortet Jamie. Denn die Messung zeigt: Bei Ilia sind die Ausschläge der Muskelsignale gering. Das macht es später schwierig, die Prothesen zu steuern.
Ein zweites Problem: An den kurzen Armstümpfen lassen sie sich schlecht befestigen. Für den optimalen Sitz müssen Abdrücke der Arme genommen werden – zuerst aus Gips. Daraus entsteht ein Modell des Armstumpfs und eine erste Fassung aus Kunststoff. Bis alles sitzt und Ilia den Hightech-Arm benutzen kann, dauert es Wochen. "Bequemlichkeit ist das Wichtigste. Wenn sie Schmerzen verursachen, werden die Prothesen nicht genutzt", erklärt Spezialist Jamie Vandersea.
Hightech-Arme durch Spenden finanziert
Ilias kosten mehr als 100.000 Dollar. Die Hightech-Arme werden bei Spezialfirmen eingekauft, finanziert durch Spenden. Die Behandlungen macht das medizinische Zentrum umsonst. Etwa 40 Soldaten hat das Unternehmen seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs behandelt, nicht nur in den USA. Um Hotelzimmer, Visa, Flüge kümmert sich eine gemeinnützige Organisation. Jeder Aufenthalt kostet 5.000 bis 6000 Dollar – und die Hilfe vieler Freiwilliger. "Unsere Community hier hilft sehr. Amerikaner, die Essen kochen und es den Soldaten in ihre Apartments oder Hotelzimmer bringen. Die Dolmetscher arbeiten ehrenamtlich. Für all das müssen wir nicht bezahlen", sagt Maryna Baydyuk, Präsidentin von United Help Ukraine.
Zur Behandlung gehören nicht nur die Prothesen. Ilia muss auch lernen, sie zu steuern. Bis das richtig klappt, kann es bis zu einem Jahr dauern, sagt seine Therapeutin. Ilia hatte nicht mal zwei Monate, damit auch andere Soldaten behandelt werden können. Was ist aus Jamies Versprechen geworden, alleine zu trinken? Es fühle sich ungewohnt an, sagt Ilia. Auf Hilfe bleibt er erstmal angewiesen – ob mit Prothesen oder ohne. Früher ist er gereist, hat auf Baustellen gearbeitet. Dass das trotz Prothesen nur schwer möglich sein dürfte, sei ihm klar, sagt er vor seiner Abreise. Jetzt sucht er einen neuen Lebenssinn. "Ich möchte anderen helfen, die das Gleiche durchgemacht haben wie ich. Aber vorher muss ich selbst einen Rehabilitationskurs machen, mit Psychologen sprechen. Bisher habe ich keine psychologische Unterstützung bekommen. Wenn ich anderen helfen will, ist es extrem wichtig, zuerst mir selbst zu helfen." Er muss lernen zu akzeptieren, dass er in jeder Sekunde daran erinnert wird, was der Krieg aus seinem Leben gemacht hat.
Autorin: Sarah Schmidt, ARD-Studio Washington
Stand: 24.09.2023 19:18 Uhr
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