So., 13.10.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Brasilien: Die bessere Demokratie? Der Umgang mit dem Bolsonaro-Coup
Das Parlament ist das Revier von Isabela Lisboa. Äußerlich ruhig und doch immer wachsam, arbeitet die Polizistin an diesem historischen Ort, wo die Gesetze Brasiliens geschrieben werden: "Das hier ist das Zentrum der Demokratie. Wir kümmern uns also nicht nur um die Sicherheit der Menschen, wir garantieren, dass die Demokratie selbst stattfinden kann." Heute gehört der blaue Teppich wieder den Politikern, Bürokraten und Gästen.
Januar 2023: Bolsonaristas verwüsten Präsidentenpalast
Vor eineinhalb Jahren aber gleicht dieser Ort einem Schlachtfeld. Rückblick: Am 8. Januar 2023 stürmen etwa 4.000 Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro das Regierungsviertel in Brasilia. Niemand hatte mit solch einem Angriff gerechnet. In letzter Sekunde will Isabella ein Einfallstor schließen: "Ein Mann hat noch gegen das Tor getreten und es hat mich auch getroffen. Aber ich habe trotzdem geschafft, es zu schließen. Wenn ich daran zurückdenke, bin ich angespannt… Es ist eine Lebenslektion."
Doch die Masse lässt sich nicht stoppen. Die sogenannten Bolsonaristas verwüsten Präsidentenpalast, Verfassungsgericht und das Parlament - überzeugt: Sie wurden um den Wahlsieg betrogen, holen zurück was ihnen gehört. "Er ist unser Held, wir sind in seinem Haus, in unserem Haus", sagt ein Mann. Die Polizei ist deutlich in der Unterzahl. Die Situation: lebensbedrohlich. "Überall vor mir Zerstörung, reale Kämpfe, alles am Limit. Uns war nicht wichtig, ob sie sich Patrioten nennen oder welche politische Fahne sie hochhielten. Unsere Mission ist größer als das", sagt Isabela Lisboa. Nach etwa drei Stunden endet der Spuk.
Bolsonaro schürte Emotionen – wie Trump
So wie Ex-US-Präsident Trump, hatte Bolsonaro zuvor Zweifel am Wahlsystem gesät. So wie Trump hat Bolsonaro seine Niederlage nie zugegeben. Beide haben Emotionen geschürt. "Das Wahlergebnis stimmt nicht. Das sieht jeder Blinde“, sagt eine Frau nach der Wahl in Brasilien. So wie in den USA kommt es in Brasilien zum Angriff auf die Herzkammer der Demokratie.
Doch Trump ist nun trotz allem Präsidentschaftskandidat – Bolsonaro dagegen unwählbar. Politische Beobachter in Brasilien reiben sich verwundert die Augen: "Es ist schon eine Überraschung, es ist verblüffend. Warum ist das dort so ganz anders als hier. Warum war unsere Reaktion so viel stärker?", fragt Julia Dualibi. Sie ist politische Journalistin. In ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm zeigt sie, dass die Demokratie in Brasilien an einem hauchdünnen Faden hing. In dieser gefühlten "Stunde null", spielt dieser symbolische Akt eine zentrale Rolle: Akteure aller Parteien, Verfassungsrichter und der Präsident treten entschlossen und geeint vor die Öffentlichkeit. "Unabhängig der Ideologie, unabhängig von politischem Streit sagen sie: 'Das akzeptieren wir nicht!' Die Kraft des Bildes ist: den Bürgern zu zeigen, dass es Einigkeit gibt gegen jeglichen Versuch die Demokratie zu brechen", erklärt Dualibi.
Große Mehrheit der Brasilaner gegen Sturm auf das Parlament
93 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, die 20 Jahre Militärdiktatur hinter sich hat, lehnt den Angriff auf die Demokratie ab. In dem USA verharren Demokraten und Republikaner im Machtkampf. "In den USA hat die politische Rechte den Aufstand erstaunlicherweise schnell als patriotischen Akt umgedeutet und im Laufe der Zeit viele der Randalierer zu amerikanischen Patrioten gemacht", sagt Jack Nicas. Er schreibt als Südamerika-Korrespondent für die New York Times. Auch er analysierte die so ähnlichen Ereignisse und meint: Die USA könnten von Brasilien lernen.
In Brasilien wacht ein Wahlgericht über Politikern, urteilt, ob sie die Demokratie bedrohen. Das Bolsonaro als Präsident im staatlichen Fernsehen Zweifel am Wahlsystem säte, werten sie als Machtmissbrauch. Bis 2030 Jahre ist Bolsonaro nun unwählbar. In den USA könnte ein Präsident vom Gefängnis aus regieren. "Die einen sehen das als einen großen Vorteil der brasilianischen Demokratie im Vergleich zu den USA. Demokratie. Aber es bedeutet auch, dass man es nicht dem Volk überlässt allein zu entscheiden, wer sein Präsident sein soll, sondern dass man diese Macht gewissermaßen einer kleinen Gruppe von Richtern überlässt", sagt Nicas.
"Demokratische Bürger Brasiliens müssen wachsam bleiben"
Bolsonaro gibt sich nicht geschlagen, ruft derzeit zu Solidaritätskundgebungen auf. Er inszeniert sich als Opfer einer politischen Hexenjagd. Und tatsächlich – wenn sie könnten, würden ihn derzeit etwa 40 Prozent der Brasilianer zum Präsidenten wählen. "Wir sind ein polarisiertes Land, da draußen gibt es noch einige Extremisten. Und das heißt, dass alle demokratischen Bürger Brasiliens immer wachsam bleiben müssen", sagt Julia Dualibi.
In Brasilia hat die Kongress-Polizei die Sicherheitsvorkehrungen hochgefahren. Ein Kunstwerk erinnert an die Feuerprobe für die Demokratie. "Das Bild erinnert uns daran, dass die Demokratie standhaft ist und dass sie noch stärker zurückkommt", so Isabela Lisboa von der Parlaments-Polizei.Isabella sieht sich und das Land gereift, die Demokratie wehrhaft.
Autorin: Xenia Böttcher, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 13.10.2024 20:29 Uhr
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