Mo., 01.05.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Dagestan: Hohe Maut-Gebühren für Lastwagenfahrer – Kleinunternehmer im Streik
Für diese Männer aus dem dagestanischen Dorf Gubden geht es heute um viel: Sie alle verdienen ihr Geld als Fernfahrer, als Mechaniker, manche sind Anteilseigner eines Schwerlasters. Seit fast einem Monat streiken sie schon, in den Familien wird das Geld knapp. "Einige von euch wollen wieder fahren. Sie haben genug von diesem Streik. Wir müssen also jetzt entscheiden: Streiken wir weiter oder fahren wir wieder?", wird gefragt. Schnell beginnen hitzige Debatten. Alle sind sich einig: Die Lkw-Maut von gut 30 Euro pro Tausend Kilometer halbiert ihren ohnehin kargen Monatsverdienste fast und gehört abgeschafft – aber die Politiker hier und in Moskau wollen nicht mit ihnen verhandeln. Die Maut werde für den Straßenbau gebraucht. "Die betrügen doch", sagt Achmet, "wir glauben denen nichts. Auf alles erheben sie Steuern, auf den Verkehr, die Häuser, alles. Bald wohl auch auf die Atemluft."
Bis zu sechs Familien leben von einem Lkw
Magomed teilt sich seinen Laster mit einem anderen Dorfbewohner, erzählt er uns, bis zu sechs Familien leben hier in Gubden von einem Lkw. 80 Prozent aller Einnahmen im Dorf stammen aus dem Speditionsgewerbe. Alle anderen Fabriken und Geschäfte hier sind längst geschlossen, auch die Landwirtschafts-Kooperative ist bankrott. Magomed muss eine große Familie ernähren, er arbeitet hart: Vier Wochen war er oft unterwegs, vom Iran nach Moskau, nach Sibirien. "Aber jetzt hat es schon keinen Sinn mehr, als Fernfahrer zu arbeiten", erzählt er. "Bei diesen räuberischen Steuern. Ich weiß ja nicht mehr: Arbeite ich für mich oder jemand anderen. Und auch nicht, wie ich sie hier ernähre, wie es weitergeht."
Junge Männer ohne Hoffnung auf Arbeit
Die Sporthalle in Gubden ist Treffpunkt für die männlichen Jugendlichen – denn sonst gibt es nichts. Kein Gemeindezentrum, keine Lokale. Dabei leben in Gubden viele Wahabiten, in den Neunzigern kamen von hier viele gefährliche Islamisten. Eine brisante Mischung, wenn die jungen Männer keine Hoffnung auf Arbeit haben. "Wir haben den Sport, und man kann als Fernfahrer arbeiten. Andere Jobs gibt es nicht. Darum kommen wir zum Training", erzählt ein Ringer. "Glauben sie an den Fernfahrerstreik? Wird die Politik nachgeben?", fragen wir. "Die werden nicht nachgeben. Selbst wenn die noch ein Jahr streiken wird sich nichts ändern", erzählt er.
Nur in Dagestan entstand Massenbewegung
Ein brennendes Auto in Sankt Petersburg – das war im März das Eröffnungsfanal für den landesweiten Streik gegen das Mautsystem Platon: Immer mehr Städte schlossen sich dem Protest an. Vor allem die Tatsache, dass der Sohn eines engen Putin-Vertrauten das Maut-System betreibt, lässt die Fernfahrer an Korruption und Günstlingswirtschaft glauben. Doch nur in Dagestan wurde der Streik zur Massenbewegung. In den Großstädten Russlands schüchterten Groß-Spediteure und Justiz die Fahrer erfolgreich ein. Fehlende Rastplätze an Autobahnen, schlechte Straßen – der Staat soll erst bauen und dann kassieren, fordern Tausende hier. Eine Geschlossenheit, die Moskau offensichtlich beunruhigt: Die Nationalgarde verhinderte eine Protestfahrt der Streikenden. Sogar Panzer fuhren auf – doch nur Demonstranten filmten, denn das russische Fernsehen ignoriert die Proteste. Die Kreml-gesteuerten Kanäle zeigen das Mautsystem in positivem Licht: Moderne Technik wie in Europa, automatische Erfassung ohne Bürokratie, und, vor allem: Wichtige Verkehrs-Infrastruktur entstehe dank Platon, neue Brücken, Tunnel, ein modernes Transportwesen.
Wegen des Streiks verfault der Kohl
Zurück in Dagestan. Ein anderes Bergdorf, das gleiche Elend. Hier, in Ulluaia, haben sie sich auf Kohl spezialisiert, der nach Russland geliefert wurde – bis ihr Streik begann. Dessen Folge: Ein Großteil des Kohls ist verfault. "Wenn der Besitzer noch 20, 30 Prozent retten kann wäre das schon gut", erzählt Kamal, "der hier ist völlig verfault." Und wie viel Geld hat dieser Bauer verloren? "Am Wert des Kohls gemessen 300.000 Rubel, also 5.000 Euro", sagt Magomed. "Das ist für mich ein Riesenbetrag. Meine Frau hat eine Krebs-Operation hinter sich." Magomed putzte den verfaulten Kohl alleine, lädt ihn jetzt selbst in seinen alten Laster und will ihn dann in einer Tagesreise in den südlichen Kaukasus fahren. "Ich werde das am Markt verkaufen", erzählt er. "Der Streik erlaubt das zwar eigentlich nicht, aber ich kann nicht länger warten, sonst muss ich den auch wegwerfen."
Streikbrechen aus purer Not
Sie leben bescheiden hier im Dorf, Reserven hat kaum einer. Nach vier Wochen ohne Einnahmen werden auch andere zu Streikbrechern und putzen Kohl für den Verkauf – aus purer Not. Weil ihr Protest in den russischen Medien totgeschwiegen wurde, haben sich nicht genug Fahrer landesweit angeschlossen, ist ihr bitteres Résumée. Auch diese jungen Männer unterstützen den Streik grundsätzlich, sagen sie uns, sie verstehen die Verzweiflung der Fahrer. Aber sie sagen auch, der vierwöchige Fernfahrerstreik habe die Kohlpreise weiter ansteigen lassen, jetzt könnte ihr Dorf zumindest den kleinen, noch nicht verfaulten Teil der Ernte verkaufen. Magomed hat nach seinem Lkw geschaut, der seit vier Wochen hier steht. Er macht sich auch keine Illusionen mehr: Trotz ihrer Einigkeit und Entschlossenheit, ohne Russland-weite Streik-Beteiligung kann Moskau sie hier in Dagestan einfach aushungern. "Im Augenblick ist hier nicht mehr viel Hoffnung übrig. Denn wenn es einen Monat lang keine Reaktionen gibt, was soll dann noch kommen?", sagt Magomed. "Niemand weiß es. Das ist eine Enttäuschung natürlich. Darüber, dass sie einfach nicht reagieren."
Drei Tage nach unserem Abschied geben ihre Anführer den Streik offiziell auf, ein Drittel von ihnen will aber trotzdem weitermachen.
Autor: Udo Lielischkies, ARD Studio Moskau
Stand: 14.07.2019 12:22 Uhr
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