So., 24.09.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Italien: Baby-Bosse – die neuen Helden der Mafia
Die Autobahn-Abfahrt nach Caivano – wer hier rausfährt, landet in Mafia-Gebiet. Die Trabantenstadt bei Neapel gilt als Hochburg der Camorra. Polizeikontrollen an der Straße – eine Groß-Razzia. Die gibt es derzeit häufig – seitdem der Ort wieder in die Schlagzeilen gekommen ist. Ein 11- und ein 12-jähriges Mädchen wurden von einer Bande Jugendlicher vergewaltigt. Mindesten zwei der Vergewaltiger sollen Söhne von Mafia-Bossen gewesen sein. Die Familien der Opfer wurden anschließend bedroht – die Töchter in ein Heim gebracht. Jetzt herrscht hier wieder die Omerta – die Mauer des Schweigens.
Ende August lädt Don Maurizio Patriciello, ein Pfarrer aus dieser Stadt. die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni in diese gottvergessene Gegend ein. Sie soll sich selbst ein Bild machen über den trostlosen und von Gewalt bestimmten Alltag. Seitdem räumen die Behörden öffentlichkeitswirksam auf in der Hochhaussiedlung von Caivano, Parco Verde – dem Mafia-Kerngebiet.
Mafia-Mitglieder werden immer jünger
Bruno Mazza und sein Team arbeiten immer hier – nicht nur, wenn es wieder laute Schlagzeilen gibt. Sie betreiben ein Zentrum, in dem die Jugendlichen Unterstützung bekommen. Von den Familien erhalten sie die meistens nicht – und sonst gibt es hier oft nur die Mafia, die etwas zu sagen hat. Ihre Mitglieder, sie werden immer jünger. Auch ein paar Razzien ändern daran nichts, meint Bruno. "Diese Razzien führen doch zu nichts. In den letzten 40 Jahren haben wir so viele davon gesehen. Aber ohne Prävention oder bessere Ausbildung und Arbeit für die Jugendlichen können die sowas jeden Tag machen und es bringt nichts."
Bruno Mazza stammt aus Caivano. Sein Leben ähnelt dem vieler anderer in Caivano: Drogen, Kriminalität, Knast. 12 Jahre saß er insgesamt. Vor acht Jahren hat er dann mit Hilfe von Spenden das Jugendzentrum eröffnet. "Un Infanzia da vivere" heißt es, eine lebenswerte Kindheit. Ohne Mafia und Gewalt.
Immer wieder stellen die Jugendlichen Videos ins Internet, lassen sich in den Kommentaren für ihre brutalen Auftritte feiern. Die sozialen Medien dienen auch dazu, Nachwuchs anzuwerben. Auf TikTok und Youtube finden sich zahlreiche aufwendig produzierte Videos, die das Leben als Mafioso verherrlichen. Geld, Frauen, Autos, Gemeinschaft. So sollen die Jugendlichen in die Fänge der organisierten Kriminalität gelockt werden. Dazwischen: Szenen von Hinrichtungen von Gegnern und Abtrünnigen.
In Caivano weiß jeder, wer zu den Babygangs gehört
"Leider beschleunigen die Medien das Phänomen der Baby-Gangs immer mehr. Die Gewalt grassiert in allen sozialen Bereichen, sie kennt keine geographischen Grenzen mehr und keine sozialen Unterschiede. Und wo es früher noch Organisationsformen gab, herrscht bei den Babygangs einfach eine unkontrollierte Form von Gewalt, für die keine Regeln mehr gelten", sagt Soziologe und Mafia-Experte Nicola Ferrini.
In Caivano weiß jeder, wer zu den Babygangs gehört. Sie wollen sich nicht filmen lassen und auch nicht mit uns reden. Aber sie stellen ihre Bewunderung für die Mafia offen zur Schau, imitieren die Lebensweise ihrer Vorbilder. Die Paten als Idole, die man sich auf den Körper tätowiert. In Neapel präsentiert sich die Mafia offen in vielen Stadtteilen. Eine Statue wurde zum Gedenken an Genny Cesarani errichtet. Mit 17 Jahren geriet er als Unbeteiligter in eine Schießerei und wurde getötet. Piero: "Es passiert hier halt manchmal, dass jemand erschossen wird." Luca: "Manchmal passiert sowas ja, wenn es Stress zwischen Clans gibt, aber die Situation ist meistens unter Kontrollen und sie drohen nur zu schießen…. Unsere Eltern haben Angst, aber was sollen wir zu Hause machen?"
Zwei 13-jährige Jungs wissen auch schon, wie es läuft. Einer sagt: "Wenn ihr mich bezahlt, rede ich. Wenn ihr mir zehn Euro gebt. Für zehn Euro mache ich alles."
Freundlichere Umgebung für Jugendliche schaffen
In Caivano will Bruno Mazza mit Hilfe von Spendengeldern Kindern und Jugendlichen eine freundlichere Umgebung schaffen. Es geht dabei auch um ganz einfache Dinge: Gerade baut er einen Spielplatz auf. "Es ist das erste Mal seit 40 Jahren, dass es hier einen Spielplatz gibt. Ich bin hier aufgewachsen und habe nie einen Spielplatz gesehen, keine Rutsche, keine Schaukel, keine Wippe, niemals."
Als gefährlichen Dschungel für Kinder beschreibt er die Gegend, wo schon Elfjährige in die Fänge der Mafia geraten, weil sie von ihren Familien und der Gesellschaft allein gelassen werden. "Wenn wir es schaffen, ihnen sinnvolle Beschäftigung und Bildung anzubieten, bevor sie von der Mafia bedrängt werden, können wir sie vielleicht davon fernhalten." Bruno will, dass die Jugendlichen anders aufwachsen als er. Keiner wird allein gelassen – steht jetzt auf der Fassade des berüchtigten Parco Verde. Als Warnung an die Mafia und als Hilfsangebot für die Jugendlichen.
Autorin: Anja Miller, ARD-Studio Rom
Stand: 24.09.2023 19:19 Uhr
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