So., 14.07.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Mauretanien: Chinguetti – die versinkende Stadt in der Wüste
Die Wüste erwacht. Die Sanddünen zeigen ihr ganze Größe – mit den Mustern, die der Wind erschuf. Und die Morgensonne liefert das Licht, die wechselnden Farben für ein Naturschauspiel. Sonnenaufgang über Chinguetti. Vor mehr als 1.200 Jahren begann der Aufstieg der Stadt in der Mitte Mauretaniens. Sie wurde Zentrum für Religion und Wissenschaft, am Kreuzweg der Karawanen. Viele Gläubige hier halten sie für den siebt-heiligsten Ort des Islam, mit einer Moschee, die sich in jeder Tourismusbroschüre findet.
Niemand weiß hier mehr darüber als Saif al-Islam. Wir treffen ihn in seiner Bibliothek nahe der Moschee. Im Regal: viele religiöse Bücher.
Reporter-Frage: "Sind das alles Hadithe, Bücher zum Leben des Propheten?"
Saif al-Islam: "Es ist arabische Wissenschaft, Hadithe, Sunna, manches auch in anderen Sprachen. Das hier sind alles Hadithe und Quran-Ausgaben. Seit dem Jahr 760 sind die Araber hier hergekommen, um in diesem Teil der Welt einen beständigen Staat zu gründen. Sie haben viel getan: Sie haben eine Moschee gebaut und Märkte geschaffen, eine ganze Stadt. Am Ende hatte sie eine Ausdehnung von 30 Kilometern Länge, es gab zwölf Moscheen und viele Bibliotheken. Aber das ist jetzt vorbei. Der Teil der Stadt ist komplett unter dem Sand verschwunden."
Mauretanien – das Land der Millionen Poeten
Saif al-Islam ist einer der wenigen Gralshüter der glorreichen Geschichte Chinguettis. Bücher, Hunderte Jahre alt, einige zur Geschichte des Propheten Mohammed, und ein Buch der Poesie: "Man nennt Mauretanien das Land der Millionen Poeten. Deshalb gibt es hier so viele Spalten im Gedicht. Wenn der Dichter gewechselt wurde, wurde die Farbe gewechselt. Es ist wie ein poetisches Wortgefecht. So, als wäre es ein Messenger-Chat der damaligen Zeit." Und dann kommt die Rezitation als Hörprobe für die Gäste. Es geht um den Sand, um Krieg, das Schicksal und – natürlich die Liebe. Und auch das ist seine Arbeit: Holztafeln mit Quranversen zu beschriften, mit denen dann das heilige Buch unterrichtet und auswendig gelernt werden kann.
Zur Hoch-Zeit von Chinguetti zählte die Stadt 30 Büchersammlungen, mit Bibliothekaren wie Saif al-Islam. Doch das war einmal: "Es gibt noch ein paar Häuser mit alten Büchern, soweit ich weiß, sind es zwölf. Aber wo sind die anderen? Ich denke, viele Bücher sind entweder beschädigt worden oder gleichsam unter unseren Augen verloren gegangen und ihre Besitzer sind weitergezogen. Es ist ein Problem von nationaler Bedeutung, es geht hier nicht nur Chinguetti. Es ist überall so, und das ist schade", sagt Saif al-Islam.
Sanddünen bedrohen Chinguetti
Früher lebten mehr als 70.000 Menschen in Chinguetti, übrig geblieben sind noch etwa knapp 5.000. Über die Jahre verlor die Stadt ihre Bedeutung als wirtschaftlicher Knotenpunkt für den Karavanenhandel. Viele Bewohner zogen in die größeren Städte, auch die Forscher und Schriftgelehrten. Ein globales Problem habe hier, in Chinguetti, alles noch schlimmer gemacht, heißt es im Rathaus: "Der Klimawandel ist sehr schädlich für die Stadt. Es gibt viele Probleme durch das Vorrücken der Sanddünen. Sie nehmen sich einen großen Teil der landwirtschaftlichen Anbauflächen in der Stadt", erklärt Mohamed Salek Ramdhane, Stellvertretender Bürgermeister. Die Oasen um Chinguetti mit ihren Dattelplantagen. Die Früchte der Region sind begehrt, doch von allen Seiten drückt die Wüste in die Oasen. Die Schutzzäune aus Palmästen, sie wirken hilflos gegen den Sand. "Die Regierung und die für Wasser und Kultur zuständigen Ministerien tun, was sie können. Sie bohren etwa Brunnen, damit die Bevölkerung etwas gegen den Wassermangel tun kann, wenn Wasser fehlt", sagt Mohamed Salek Ramdhane.
Doch das Bohren wird immer aufwendiger, der Grundwasserspiegel, sinkt stetig. Jedes Jahr kommt die Wüste inzwischen 15 Meter näher. Ein paar Kilometer nordwestlich, dort, wo Chinguetti einst sein Zentrum hatte, sei nur noch diese Moschee geblieben, erklärt unser Begleiter Hamdi: "Dieser Teil der Stadt ist schon von dieser unwirtlichen und wachsenden Wüste geschluckt und begraben worden. Ein paar Häuser sieht man noch, aber die meisten Menschen sind schon auf die andere Seite weitergezogen."
Zahl der Reisenden steigt
Um die Ecke kommt die neue Hoffnung: Touristen. Es fehlt noch an Infrastruktur, aber die Zahl der Reisenden steigt langsam. Es sind vor allem die junge, neugierige Rucksacktouristen, die kommen. Wie Valentina Buzdugan: "Ich bin an diesem wenig bekannten Teil der Welt interessiert. Ich wollte etwas darüber lernen – und natürlich über die Kultur."
Nachdenken über eine Stadt und ihre Kultur, die im Sand versinkt. Hamdi, unser Begleiter, wird melancholisch, rezitiert aus einem Gedicht: "Sag mir, Chinguetti, o Wunder der Wüste! Wo sind deine ersten Baumeister geblieben? Über deine goldenen Dünen, über deine grünen Palmen, schweift mein Blick, ein trauriger Blick, voller Schmerz."
Mehr Touristen könnten den Schmerz lindern, den Klimawandel und das Vorrücken der Wüste werden sie nicht stoppen. Für Chinguetti bleibt wohl nur der traurige Blick zurück.
Autor: Norbert Hahn, ARD-Studio Nairobi
Stand: 16.07.2024 09:07 Uhr
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