So., 19.02.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Schweden: NATO oder Nicht? Wehrpflichtige in der neuen Realität
"Siehst du den umgefallenen Baum? In etwa 100 Metern? Schieß in diesen Bereich". Der Feind hat sich im Wald verschanzt. Offenbar ganz in der Nähe. Filippa versucht sich mit ihrer Gruppe heranzupirschen. Wir können ihre Einheit des schwedischen Militärs bei einer Übung begleiten, sollen aber keine Nachnamen nennen.
Als sich die 19 Jahre alte Wehrpflichtige für den Militärdienst gemeldet hatte, gab es noch keinen Krieg in der Ukraine. Doch jetzt ist für die junge Soldatin alles anders. Selbst diese Übung: "Für mich war das ganze eher etwas, das Spaß macht. Man macht Sport, lernt neue Leute kennen. Ich glaube, für mich und für viele andere ist diese Übung jetzt viel realer. Die Weltlage wird immer ernster.”
"Feuer!". Eine feindliche Einheit ist gesichtet worden. "Vorwärts". Im Wald im Norden von Stockholm schießen sie mit Platzpatronen. Doch in Gedanken beschäftigen sich viele damit, wie es wäre, im Ernstfall scharf schießen zu müssen. Wie im Krieg in der Ukraine. "Manche möchten die ganze Zeit darüber reden, weil sie sich dann besser fühlen. Während andere überhaupt nicht darüber sprechen, weil es so belastend für sie ist. Um zu funktionieren, denke ich nicht mehr darüber nach. Es macht mir Angst, wirklich", sagt Filippa.
Strategische Lage macht Schweden für die NATO interessant
Seitdem der Krieg in Europa wieder so nah ist, rüstet auch Schweden auf. Anders als Nachbar Finnland hatten sie hier über einige Jahre die Wehrpflicht ausgesetzt. Jetzt will Schweden die Anzahl der Wehrpflichtigen innerhalb weniger Jahre verdoppeln. Auf die Ostseeinsel Gotland rollten schon vor einem Jahr wieder Panzer. Wo die Schweden sonst Urlaub machen, trainiert jetzt wieder das Militär. Besonders die strategische Lage im Ostseeraum machen Schweden und Finnland für die NATO so interessant, sagt die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander vom Finnish Institute of International Affairs: "Insgesamt ändert sich einfach die Kräfte-Korrelation zugunsten der NATO in der Region mit dem finnischen und schwedischen Beitritt. Und das ist schon ein deutlicher Unterschied zu früher, wo Russland dann recht freie Fahrt hatte, die nordischen und auch baltischen Länder nach Belieben so zu stören und so ein bisschen unter Druck zu setzen."
Schweden war lange stolz darauf, offiziell keinem militärischen Bündnis anzugehören. In Zeiten des Kalten Kriegs setzte sich Ministerpräsident Olof Palme für Frieden und Verständigung ein und prägte das Bild der weltweit respektierten moralischen Instanz. Doch Palmes Mitstreiter von einst trauen nun ihren Augen nicht mehr. Eine Mehrheit im Land unterstützt den NATO-Beitritt. Das weiß auch Göran Greider. Doch der Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung "Dala-Demokraten" glaubt, dass der Antrag beizutreten, ein Fehler war: "Ich glaube, dass die Welt ein paar Staaten braucht, die zu keinem militärischen Block gehören. Ganz einfach deshalb, weil im Westen enorm aufgerüstet wird. (...) . Der Krieg kann nicht 50 Jahre weitergehen. Irgendwann muss er ein Ende finden. Und dann braucht es allianzfreie Staaten. Früher war Schweden das. Nun sind wir das nicht mehr."
Im Wald laden die Soldaten nach. Filippa und ihre Einheit haben eine kurze Pause. Ein NATO-Beitritt würde Schweden den Schutz durch die anderen Bündnis-Staaten bieten. Doch sie hier wissen auch, dass die Streitkräfte im Gegenzug auch andere verteidigen müssen. "Natürlich wäre es schöner, wenn wir uns diese Gedanken nicht machen müssten. Aber ich habe sie, sie belasten mich", sagt die Wehrpflichtige Filippa.
Im Sommer ist Filippa mit der zehnmonatigen Grundausbildung fertig. Dann will sie das Militär wieder verlassen. Die Entscheidung, betont sie, sei aber unabhängig vom Krieg in der Ukraine gefallen.
Autor: Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm
Stand: 19.02.2023 19:57 Uhr
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