So., 15.12.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Syrien – Suche nach Alltag und unklare Zukunft der russischen Militärbasen
Madina Amu und Aref Amin sind froh, dass sie es hierher geschafft haben. Die beiden Jesiden mussten mit ihrer gesamten Familie vor islamistischen Milizen flüchten – und leben nun auf dem Gebiet der kurdisch-dominierten Selbstverwaltung, in einem Rohbau ohne Heizung, ohne Fenster. "Auf der Flucht haben wir gesehen, wie ein zwei Jahre alter Junge erfroren ist. Eine Frau musste im Auto ein Baby zur Welt bringen – ein Baby, nachts", erinnert sich Madina Amu.
Sie alle können nicht fassen, dass sie nun erstmal hier – ohne Toilette – ausharren müssen. Dazu kommt die Trauer über ihren Vater, der auf der Flucht verstarb – und den sie dort neben der Straße zurücklassen mussten. Kaffee kochen, ankommen. Dank einer jesidischen Hilfsorganisation kommen Madina, Aref und ihre 20 Familienmitglieder in zwei Zimmern unter.
Jesiden sehen ihre Kultur bedroht
Aref hat auf der Flucht unter den Milizen auch extremistische Kämpfer gesehen – und erlebt, wie die türkische Luftwaffe seine Heimat bei Aleppo aus der Luft bombardiert hat: "Die türkische Regierung steckt mit den Milizen hinter diesen Angriffen. Sie wollen die kurdische Kultur auslöschen und vor allem uns Jesiden." Ihre jesidische Kultur sehen sie bedroht. Früher, als die Terrormiliz IS gegen ihre religiöse Minderheit im Irak vorging – und jetzt wieder, wo Islamisten die Macht im Rest Syriens erobert haben. Hier, in Qamischli, sind sie – nach dem Sturz Assads – erstmal sicher. Die alten Barrikaden haben ihren Sinn verloren. Seit Assads Truppen aus den wenigen Stadtvierteln abgezogen sind, die der Diktator zuletzt noch kontrollierte.
Ein Hauch von Alltag kehrt im wirtschaftlich gebeutelten Nordosten Syriens ein. Auch für die Christen, die hier leben. Wir fahren nach Westen auf der Schnellstraße Richtung Aleppo. Im Ort Tall Tamr – wie überall in Nordostsyrien – leben verschiedene religiöse Gruppen weitgehend friedlich zusammen. Wenn hier Loris Schlemon bei Selman Mor einkauft, ist es wie ein Treffen von Freunden. Er: kurdischer Muslim. Sie: assyrische Christin. Die Marmelade kauft Loris für ihren Mann Adam, als süße Aufheiterung mitten im Bürgerkrieg, den sie in Tall Tamr täglich spüren. "Natürlich leben wir in Angst. Schlimm, oder? Wir haben Angst, wenn die Bomben fallen", sagt Loris Schlemon.
Hinter der Kirche liegt die Front. Bauern bestellen zwar ihr Stück Land, doch am Horizont – in nur drei Kilometer Entfernung – lauern islamistische Milizen in Schützengräben, bereit anzugreifen. Vor denen auf der anderen Seite hat Loris Angst. Sie lebe gerne in der nordostsyrischen Selbstverwaltung, wo Kirchen neben Moschen stehen. Diskriminiert werde sie nicht, im Gegenteil: Sie komme mit allen aus, respektiere die Bräuche der anderen. Wir fragen Loris und ihren Mann Adam: Was würden sie als Christen tun, wenn die islamistischen Milizen hier einfielen? "Hoffentlich kommen sie nicht. Aber wenn doch, bleiben wir hier. Wir haben keinen Ort, wo wir hingehen könnten", sagt Loris Schlemon.
Türkei nutzt instabile Übergangsphase in Syrien aus
Direkt vor ihrem Haus – in einer Turnhalle – schlug vor wenigen Tagen eine türkische Drohne ein, erzählen sie. Adam Hormess war damals bei der Gartenarbeit, als es passierte: "ch wollte gerade den Müll verbrennen, plötzlich hörte ich einen Knall. Ich wurde durch den Wind zur Seite gestoßen. Meine Fenster gingen zu Bruch und die Türen flogen auf."
Der Sprecher der nordostsyrischen Truppen kritisiert das Nachbarland im Norden – die Türkei. Erdogan nutze ganz gezielt die instabile Übergangsphase in Syrien aus, Sinne seiner eigenen Agenda: "Es ist offensichtlich, dass die Türkei so schnell wie möglich so viel wie möglich von unserem Land einnehmen will, in dem sie das aktuelle Chaos in Syrien ausnutzt", sagt Siamand Ali, Sprecher SDF-Kommando.
Militärisch stehen die USA mit eigenen Militärbasen und 900 Soldaten den kurdisch-dominierten Kräften im Nordosten zur Seite. Auch die Russen sind hier im Einsatz – zumindest bislang: Ihre offizielle Aufgabe: An der Grenze den Konflikt mit der Türkei zu überwachen. Doch der ist jetzt wieder offen ausgebrochen.
Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Kairo
Stand: 16.12.2024 09:04 Uhr
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