So., 19.02.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Vergewaltigung als Kriegswaffe
Ein Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew: In ihrem kleinen zweistöckigen Haus hat Galina Tishchenko ein Datum auf die Tapete geschrieben: 19. März 2022. Einfach, damit sie diesen Tag nie vergisst, erzählt sie uns. Als russische Truppen in ihrem Dorf längst zerstört und gemordet haben, kommen zwei Soldaten, Anfang 20. Tishchenko erinnert sich: "Diese Jungs kamen zu mir und trugen Sturmhauben, das heißt, ihre Pullover waren schwarz, sie haben sie so gemacht. Also, die Nase war auch nicht zu sehen." Sie bedrohen die 60-Jährige mit ihren Waffen, erniedrigen sie.
Einer verschwindet schließlich, der andere stößt Galina Richtung Haus. "Er sagte: 'Zieh deine Sachen aus! Ich fing an zu weinen und fiel auf die Knie. Bitte tun Sie das nicht. Ich bin eine alte Frau.' Wissen Sie, mein Gesicht war immer noch geschwollen vom vielen Weinen. Er sagte: 'Oma, zieh Dich aus.' Ich fing an, mich auszuziehen, mein Hemd blieb, und ich trug auch einen Damenschlüpfer. Dann hat er diese Maschinenpistole benutzt, versuchte mir das Hemd auszuziehen." Der russische Soldat schlägt zu, wieder und wieder. Er vergewaltigt Galina – auch mit einer Maschinenpistole und mit schmutzigen Händen, legt eine Granate neben sie. Droht ihr mit dem Tod.
Viele Opfer schweigen
Das Ausmaß und die Brutalität sexueller Gewalt im Krieg ist erschreckend. Ukrainische Ermittler und internationale Organisationen versuchen, Opfer- und Zeugenberichte zusammenzutragen. Kriegsverbrechen zu verfolgen. Schon jetzt zeichnet sich ein schreckliches Bild ab. "Seit der großen Invasion haben wir 156 Fälle von sexueller Gewalt registriert. Hier ermitteln wir, aber es ist sehr wichtig zu verstehen: 156 ist nur die Zahl der Opfer, die sich auf das Strafverfahren einlassen", sagt Iryna Didenko von der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft.
Denn viele Opfer schweigen. Nicht Lyudmyla Huseynova, ihr ist es wichtig, uns ihre Geschichte zu erzählen. Drei Jahre lang ist sie in russisch besetztem Gebiet, in der Region Donezk, in Haft. Illegal, ohne offizielle Anklage. Dort wird sie geprügelt, verletzt, aufs Brutalste misshandelt. "Diese Männer drohten: 'Trotz deines Alters… wirst du mit deinem Mund für die Jungs, die von Kampfeinsätzen zurückkommen, für Entspannung sorgen. Du wirst der Volksrepublik auf diese Weise helfen." Sie zogen mir eine Tüte über den Kopf und warfen mich fast die Treppe hinunter."
Sexuellen Misshandlungen gegen Frauen, Männer und Kinder
Sexuelle Gewalt im Krieg: Die Wissenschaftlerin Marta Havryshko forscht seit langem zu diesem Thema. Seit dem 24. Februar 2022 sammelt sie auch Daten und Fakten aus ihrem Heimatland, der Ukraine. Opfer sexueller Gewalt seien sowohl Männer und Frauen – als auch Kinder. "Das jüngste heute bekannte Opfer ist ein vierjähriges Mädchen, ihre Eltern wurden vor ihren Augen vergewaltigt und später wurde sie vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt. Die ältesten Frauen sind achtzig plus. Wir haben auch eine Menge betroffener Männer. Das sind Männer, die kastriert wurden oder verschiedene Formen von genitaler Gewalt erlitten haben", sagt Havryshkovom vom Institut für Geschichte an der Universität Basel.
Laut den Vereinten Nationen gibt es Hinweise, dass die sexuellen Misshandlungen durch russische Soldaten in der Ukraine systematisch und als Kriegswaffe eingesetzt werden. Die Folgen der Misshandlungen sind für die Opfer verheerend. "Das heißt, Albträume, Flashbacks, ständiges Wiedererleben traumatischer Erfahrungen, was zu sozialer Isolation, Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen führt. Wir haben heute schon Fälle von Frauen und Männern, die nach einer Vergewaltigung Selbstmord begangen haben, und auch Fälle, in denen ihre Kinder, die die Vergewaltigung miterlebt haben, versucht haben, sich das Leben zu nehmen“, erklärt Havryshko.
Ermittler meist nicht im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt geschult
Wichtig sei professionelle Hilfe, um eine Chance zu haben, die Traumata zu verarbeiten. Es passieren jedoch immer wieder schwere Fehler. Auch bei den staatlichen Befragungen. Ermittler sind meist nicht im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt geschult, bieten deshalb weder medizinische noch psychologische Hilfe an. Auch im Fall von Galina: "Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet und wie alle Ukrainer gelebt. Ich habe immer alle Steuern gezahlt. Aber ich bekam keine medizinische Versorgung, jedenfalls nicht freiwillig. Ich habe einfach selbst darum gebeten, weil ich wusste, dass ich nirgendwo anders hingehen konnte. Aber niemand und nichts hat mir Hoffnung gemacht, dass ich irgendwie behandelt werden würde oder dass man mir medizinisch weiterhelfen würde."
Die medizinischen Tests auf Geschlechtskrankheiten zahlte die 60-Jährige selbst, psychologische Hilfe hat sie bis heute nicht bekommen. Trotzdem möchte Galina nicht aufgeben. Ihr ist es wichtig, dass die Welt von der Brutalität russischer Soldaten in der Ukraine erfährt.
Auch wenn dieser Angriffskrieg eines Tages ein Ende findet, werden die Opfer dieser Gräueltaten noch lange um ihren inneren Frieden kämpfen müssen.
Autorin: Susanne Petersohn, ARD-Studio Kiew
Stand: 19.02.2023 19:45 Uhr
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