So., 21.07.19 | 19:20 Uhr
Abchasien: Abtrünnig und von Russland abhängig
Zur geschichtlichen Präzisierung: Georgien und Abchasien verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, Abchasien hatte bereits früher zu Georgien gehört. Nach einer kurzen Phase formal größerer Autonomie machte Stalin Abchasien 1931 wieder zu einem Teil Georgiens, damals die georgische Sowjetrepublik (Ergänzung vom 24.07.2019).
Zu Georgien wollen die 250.000 Abchasier nicht gehören. Ihre Unabhängigkeit aber erkennt außer Russland und ein paar wenigen Staaten niemand an. Wirtschaftlich am Boden, denn Obstanbau und der Tourismus an den Schwarzmeer-Stränden bringen nur wenig ein. Abchasien hängt am Tropf Russlands, wirtschaftlich wie militärisch. Wunderschöne Landschaften und bröckelnde Sowjet-Bauten. Eine Reportage aus einer fast unbekannten Region.
Geisterstädte und Verfall
Die Natur gewinnt die Oberhand – über alte Sowjet-Bauten in Abchasien. Pawel Koscheikin ist Extremsportler. Seit zehn Jahren lebt der Russe in Abchasien. Mit einem Freund ist er heute zum Abseilen in das alte Kraftwerk von Tqwartschal gefahren. "Das war ein Kohlekraftwerk", erklärt Pawel Koscheikin, "um die große Stadt Tqwartschal mit Strom zu versorgen. Damals 40.000 Einwohner. Heute lebt hier kaum noch jemand.”
Sterbende Industrie sowie der Krieg zwischen Georgien und dem nach Unabhängigkeit strebenden Abchasien trieb Anfang der 90er Jahre die Menschen weg. Tqwartschal wurde zur Geisterstadt. "Es ist wie ein Museum, das den Zerfall nach dem Krieg zeigt. Ich habe gemischte Gefühle. Einerseits bin ich froh, das hier zu sehen. Denn in der Zeit der Sowjetunion hätte mich hier niemand reingelassen. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, es könnte doch eigentlich zum Wohl der Menschen hier alles weiter funktionieren.”
Doch die einstigen Prachtbauten verfallen. Das Bahnhofsgebäude von Tqwartschal. Die Bahnlinie eingestellt. Die Brücken – Outdoorspielplatz für Pawel. Mit dem Auto fährt er in eine alte Bergarbeiter-Siedlung. Hier lebten einst 5.500 Menschen, jetzt noch 14. "Bei den Kriegshandlungen 1992/1993 wurde Tqwartschal belagert, die Kohle konnte nicht mehr ausgeliefert werden, die Kunden brachen weg. Als Folge gab es hier keine Arbeit mehr.”
Enge Beziehungen zu Russland
Viele Bewohner sind nach Russland gezogen oder in andere Teile Georgiens, ihre Wohnungen ließen sie zurück. Auch Janna, 74, lebte eine Weile in Russland, doch sie hat es zurück hierher nach Abchasien gelockt. Auch wenn sie fast keine Nachbarn mehr hat. "Früher war hier alles sauber, es gab überall Licht, aber jetzt sind keine Leute mehr da, wer soll sich darum kümmern?” Zwei bis drei Mal am Tag schleppt sie Eimer mit Wasser in ihre Wohnung. Zwei Zimmer, Küche, Bad – der Herd wirkt etwas improvisiert, als Heizung gibt es im Winter nur einen Elektroofen. Doch Janna ist glücklich hier. "Worüber könnte ich mich denn beschweren? Es gibt einen Arzt hier, ich bekomme eine Rente von umgerechnet 140 Euro, eine russische Rente.”
Denn Russland zahlt Abchasen Renten. Nur wenige Fernsehkanäle kann Janna hier empfangen, es sind vor allem russische. Russland ist so gut wie der einzige Verbündete Abchasiens. Wieder zu Georgien zu gehören, kann sich kaum ein Abchase vorstellen. Die traumhafte Berglandschaft Abchasiens liebte auch Sowjet-Diktator Joseph Stalin. Am Riza-See ließ er sich eine Sommerresidenz erbauen und traf eine folgenschwere Entscheidung: Abchasien wurde Georgien zugeordnet.
Georgier fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach der blutige Krieg aus, dessen Spuren noch heute zu sehen sind. 10.000 Menschen starben, Abchasien erklärt später seine Unabhängigkeit. Die georgische Bevölkerung verlässt ihre Häuser fluchtartig. Noch heute stehen viele davon leer. Fast nur in der Region Gali sind georgische Familien zurückgekehrt. Wie Nukri Papawa und seine Frau Leila Gogochia. Die georgischen Köstlichkeiten täuschen über die Armut der Familie hinweg. Angehörige der georgischen Minderheit bekommen keine gute russische Rente, sondern nur eine mickrige abchasische. Sie sind wie Bürger zweiter Klasse. "Von zehn Familien hier in der Nachbarschaft bin ich der einzige, der Arbeit hat", erzählt Nukri Papawa. "Alle anderen haben keinen Job. Aber auch meine umgerechnet 67 Euro pro Monat reichen nicht mal fürs Brot.”
Ohne das eigene traditionsreiche Familien-Grundstück könnten sie nicht leben. Schon Papawas Vater wurde hier geboren. Eigene Hühner und Kühe haben sie hier sowie einen großen Gemüsegarten und Haselnüsse. "Wir verkaufen die, davon kaufen wir uns dann Brot, so leben wir. Die Bezahlung als Rettungswagen-Fahrer reicht nicht.” Die georgische Tradition ist ihnen heilig. Sie schauen georgisches Fernsehen. Mit den Abchasen gebe es keine Probleme, betonen sie fast einmal zu oft. Spürbar ist die Angst, neue Schwierigkeiten zu kriegen. Denn es gibt gerade Streit um neue Pässe für die georgische Minderheit. Ob sie einen bekommen, ist unklar. "Mit diesen alten Pässen sind wir immer nach Georgien und zurückgefahren, aber das geht jetzt nicht mehr", klagt Leila Gogochia. "Es gibt für uns jetzt etwas Neues, nur eine Aufenthaltsgenehmigung. Und das ist schlecht.” Auch das hinterlässt bei ihnen wieder das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Abchasen haben fast alle zusätzlich noch einen russischen Pass. Denn der abchasische ist international nicht anerkannt. Die Verbindung nach Russland ist eng, von dort kommen auch fast alle Touristen. Ihnen will Pawel die Schönheit der Natur in Abchasien zeigen. Canyoning für Touristen aus Russland und Weißrussland. Angereist sind sie mit dem Zug. Die russische Eisenbahn auf reparierten Gleisen zeigt eine wirtschaftliche Verbesserung – eine langsame, mit Hilfe aus Moskau. Abchasiens einziger ziviler Flughafen steht dagegen so gut wie still. Kein Geld für die Instandhaltung der Landebahn. Flüge ins Ausland sind nicht möglich, denn auch für den internationalen Flugverkehr gilt Abchasien als Teil Georgiens.
Demian von Osten, ARD-Studio Moskau
Stand: 14.08.2019 10:30 Uhr
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