So., 21.07.19 | 19:20 Uhr
Mexiko: Marathon in Sandalen
In dünnen Gummisandalen will Lorena Ramirez den Marathon von Mexiko-Stadt laufen. 36.000 Teilnehmer und noch mehr Zuschauer. In ihrer Heimat in Nordmexiko folgt die 24-Jährige vom indigenen Volk der Tarahumara täglich über viele Kilometer ihren Tieren. Traditionell mit dünnen Gummisandalen. Ein spezielles Marathontraining braucht sie daher nicht.
Der erste Marathon auf Asphalt
Fünf Uhr in der Früh, die Dämmerung hat noch nicht begonnen, doch Mexiko-Stadt ist schon auf den Beinen. Ein Großereignis steht bevor. Lorena Ramirez ist Gast in einer für sie fremden Welt. Angespannt ist sie, immer fest an der Seite ihres Bruders. Dabei ist die indigene Raramuri in Mexiko ein Star: "Sie ist eine Inspiration, ein Vorbild", sagt eine Frau. Und ein Mann meint: "Sie hat so wenig Unterstützung bekommen und dennoch ist sie jetzt weltweit ganz vorne mit dabei." In Gummisandalen will Lorena den Marathon in Mexiko-Stadt laufen. Das erste Mal auf Asphalt.
Lorenas Welt ist eine andere. Die einsamen Hügel und Täler der Sierra Tarahumara. Die Heimat der Raramuri, lange bevor es ein Land namens "Mexiko" gab. Die 24-Jährige lebt hier abgeschieden mit ihren Eltern und Geschwistern. Der nächste Nachbar wohnt zwei Stunden entfernt. Geredet wird nicht viel. Spanisch hat Lorena nie gelernt, die Schule ist weit weg und wird, wenn überhaupt, von den Brüdern besucht. Das Leben der Raramuri ist traditionell.
Laufen haben sie im Blut
Doch Lorena hat ein besonderes Talent, sie rennt 100 Kilometer, hat schon fünf Mal einen Ultramarathon gewonnen. Jetzt wird sie zu den großen Rennen der Welt eingeladen. "Ja, es macht mich sehr glücklich. Denn es ist das, was mir beigebracht wurde und was ich mir selbst beigebracht habe. Ich weiß nicht, wir sind alle sehr schnell und ausdauernd, und das gefällt mir an meiner Familie."
Leichte Füße, das heißt Raramuri übersetzt. Das Laufen haben sie im Blut, sagen sie. Ein Marathontraining – braucht sie nicht, weil sie viel gehen, 10 Kilometer täglich folgt Lorena ihren Tieren. Traditionell in dünnen Gummisandalen. "Ich weiß nicht, wie es wäre, weit weg von meiner Heimat zu sein. Vielleicht wäre ich sehr traurig. Würde ich in der fernen Stadt leben, würde ich wahrscheinlich das Land hier sehr vermissen. Ich bin oft draußen." Das Leben der Raramuri galt vielen Mexikanern bislang als zurückgeblieben. Doch weil sie jetzt berühmt ist, ist die Bewunderung groß. "Als ich noch nicht bekannt war, nicht gesiegt habe, da hat mich niemand angefeuert: Los geht’s Lorena. Es waren nur wenige, ein paar, die mich motiviert haben."
Kämpfen, um sichtbar zu sein
Lorena ist eine Inspiration für andere Raramuri, wie Irma Chávez. Auch Irma ist eine Siegerin. Der Bundestaat Chihuahua hat sie zur besten Radiomoderatorin gekürt. Sie will Raramuri-Frauen stark machen. Irma ist selbstbewusst und redegewandt – ganz anders als Lorena. "Sie fragte mich, wie ich es geschafft habe, wie ich gelernt habe, so mutig vor Menschen zu reden, ohne Angst. Wie ich den Fremden Vertrauen kann? Ich sagte ihr, weil ich entschieden habe, ich zu sein. Niemand wird für mich entscheiden." Irma ist vom Land in die Großstadt Chihuahua gezogen. Allein mit ihrer Tochter. "Sie riefen mir zu "kleine Indianerin", diskriminierende Worte." Aber ihre Tochter, das steht fest, soll studieren können, anders als es bislang bei den Raramuri Tradition ist. "Erst kommt die Schule, dann die Arbeit, damit kein Mann ihr später sagen kann: Wegen mir hast du das alles, sondern aus eigener Kraft. Und sie soll glücklich sein."
Anders als auf dem weiten Land leben Raramuris hier dicht an dicht. Kleine Siedlungen, oft am Rande der Stadt. Unbeachtet, unsichtbar. Wo soll da Selbstbewusstsein herkommen? Genau darum sei Lorena so wichtig, sie sei der lebende Beweis: Unsere Kultur ist stark! "Sie selbst ist die Botschaft", sagt Irma Chavez, "vielleicht kämpft sie noch damit, die richtigen Worte auf Spanisch zu finden, aber sie führt einen Kampf, wie so viele hier von uns. Wir alle kämpfen tagtäglich darum, sichtbar zu sein."
Die große, weite Welt steht offen
Der Marathon von Mexiko-Stadt, das heißt über 36.000 Teilnehmer und noch viel mehr Zuschauer. Lorena stellt sich alldem, trotz ihrer Angst. Diesmal geht es ihr nicht ums Gewinnen, sie will allein den Asphalt bezwingen, auf dem sie zu laufen nicht gewöhnt ist. In Tracht und Gummisandalen rennt sie auch für alle Raramuri-Frauen.
Das Schreien, den Tumult, Lorena scheint all das nicht wahrzunehmen. Die 42 Kilometer auf Asphalt bringt sie am Ende recht locker hinter sich. Lorena muss nicht siegen, um gefeiert zu werden. Mehr und mehr Mexikaner sind stolz auf die Indigenen. "Ich finde es schön, ein Vorbild zu sein und ich will noch stärker werden, um jedes Rennen zu meistern." Nichts kann für Lorena ihre Heimat ersetzen. Aber Schritt für Schritt ist sie bereit für noch mehr von der großen weiten Welt, die, so scheint es jetzt, für sie offensteht.
Xenia Böttcher, ARD-Studio Mexiko
Stand: 23.07.2019 14:26 Uhr
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